Festrede zur Einweihung des Altenwohnheims


Festrede zur Einweihung des Altenwohnheims in Darmstadt am 9. Mai 1960

Festrede Dr. Heinrich Troeger

Unabweisbar sind wohl jedem von uns auf dem Wege hierher, zu dieser feierlichen Stunde, zu der wir uns zusammengefunden haben, zwei Gedankenreihen in den Sinn gekommen. Ich meine die Frage nach den Spendern und Stiftern, ihren Motiven und ihrer Zielsetzung und ferner die Frage nach den alten Leuten, die inzwischen in dieses Heim eingezogen sind, nach ihren Gefühlen und ihren Gedanken.

Dieses Heim ist ein Zeichen unserer Zeit – mehr noch der Zeit vor 8 oder 10  Jahren als unserer heutigen Gegenwart; es ist ein Bekenntnis zu der Erfahrung, daß alles im Leben auf dieser Welt gefährdet ist, untergehen und verloren werden kann. Alles Hab und Gut kann durch Feuersbrunst und Bombenexplosionen zerstört werden. Es kann verlorengehen durch Raub oder Vertreibung, durch siegreiche Soldateska, wildgewordene Menschen. Wenn dem einzelnen sein Leben blieb und seine Gesundheit für sich, seine Frau und seine Kinder, dann war er jedenfalls gerettet zu neuem Leben, zu hoffnungsvollem Wiederbeginn und zuversichtlicher Daseinsgestaltung. Wehe dem, der sich nicht lösen konnte von seinem Hab und Gut, der an seiner Scholle, an seinem Haus und Heim hing, als schon die Bomben und Granaten krachten und die Windsbraut heulend in die Flamme der Zerstörung fiel – als die feindliche Front von Osten heranflutete, Tod und Verderben vor sich hertreibend. Wehe den vielen deutschen Brüdern, die damals nicht Schutz und Rettung suchten, wo sie einzig zu finden waren, im Schoß der Erde, in den Kellern und Bunkern und in der Gemeinschaft der deutschen Leidensgenossen, über die das Unheil hereingebrochen war, das ihre Gewalthaber anderen Völkern gebracht hatten. Ich meine den Schutz der Gemeinschaft, die in solchen Tagen des Weltgerichts der letzte Halt ist, wenn alles versagt und verlorengeht. Hier ist ein Ort der Zuflucht, ein Hort, der in den Tagen des Unterganges im Frühjahr 1945 der deutschen Schicksalsgemeinschaft – von Ausnahmen, teuflischen Ausnahmen abgesehen – nicht fehlte, denn der Nationalsozialismus hatte den Kern unseres Volkes noch nicht vergiften und zerstören können. Von diesem Geist ist ein Stück in das Darmstädter Alterswohnheim eingegangen; er bildet einen Teil seines geistigen Fundaments.

Der andere wichtige Teil ist der Dank an die Alten. Wir sind heute in der Zeit der Arbeitsteilung, des Sozialstaates, der modernen Industriegesellschaft zu der Erkenntnis gekommen, daß der einzelne allein, auf sich selbst gestellt, nicht existieren kann, es muß als tragender Grund, als notwendige Ergänzung zu seinem Leben die Gesellschaft, die arbeitsteilige Volkswirtschaft, in unserem Falle eben unsere deutsche Volkswirtschaft hinzukommen. Die Zeit der rein privatwirtschaftlichen Lebensgestaltung ist vorüber. Es ist heute nicht mehr möglich – und es war eigentlich schon vor 100 Jahren nicht mehr möglich-, daß sich der Staat, die markanteste Erscheinungsform unserer Gesellschaft, um nicht wiederholt von Volksgemeinschaft und Volkswirtschaft zu sprechen, vom wirtschaftlichen Leben fernhält und die Bürger auch insoweit sich selbst überläßt. Den Nachtwächterstaat können wir uns heute nicht mehr vorstellen, wir wollen den Sozialstaat, weil unser aller Leben von der Gesellschaft, von der cocietas, mitgetragen und mitgestaltet wird. Wie stünde es denn um die Teile der Bevölkerung – und das ist etwa die Hälfte aller Einwohner -, die noch nicht oder nicht mehr im Erwerbsleben stehen, wenn sich der Staat nicht nachdrücklich um sie kümmerte? Ich meine die Kinder und die in der Ausbildung stehenden jungen Leute einerseits  und die wegen Alters oder Krankheit nicht mehr Arbeitsfähigen andererseits. Wer sollte für sie sorgen und aufkommen in der modernen Massengesellschaft? Wo bliebe der Fortschritt im technischen Zeitalter ohne die breiteste Vorsorge und Fürsorge für die Ausbildung unseres Nachwuchses? Und ist nicht die monatliche Höchstrente von 190,– Mark in der Ostzone eine der Tatsachen, die uns in Gedanken an unsere Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs mit am meisten bedrückt? Hierher gehört noch eine andere allgemeine Überlegung, nämlich die Erkenntnis, daß jeweils alle Erwerbstätigen, die Selbständigen und die Unselbständigen, die Großen und die Kleinen, die Erfolgreichen und die weniger Erfolgreichen, die Jüngeren und die Alten, die am Schraubstock und die an der Maschine ebenso wie die am Pflug und die am Schreibtisch, daß sie alle zusammen das Volkseinkommen erarbeiten, von dem alle, auch die Kinder, auch die Kranken und Gebrechlichen, von dem sie alle leben und leben müssen. Das bedeutet, daß die heute alten und nicht mehr erwerbsfähigen Mitbürger durch ihre Berufsarbeit für uns mitgearbeitet haben, als wir noch Kinder und in der Ausbildung waren, und es bedeutet weiter, daß die heute heranwachsende Jugend eines Tages auch dafür wird mitarbeiten müssen, daß die heute im Erwerbsleben Stehenden einen ruhigen und auskömmlichen Lebensabend führen können. So steht immer ein Teil des Volkes für den anderen ein, die Erwerbstätigen schaffen zugleich für die Jugend und für die Alten.

Das ist der herrliche Grundgedanke, der sich in diesem Alterswohnheim manifestiert hat, daß zu den staatlichen Maßnahmen der Fürsorge für die Alten und Kranken noch die freiwilligen Beiträge der Stifter und Spender in Darmstadt, vorzugsweise aus Flüchtlingsbetrieben, hinzugekommen sind und halfen, dieses Heim zu erstellen. Es ist ein Teil des Dankes an die Alten- privatwirtschaftlich und rechnerisch freilich nicht zu ermessen, aber weil es freiwillige Spenden sind, deshalb erscheinen sie um  so wertvoller und wirksamer.

Wer zu rechnen liebt,
Der wird nie auf seine Rechnung kommen.
Leben lehrt: wer einen Finger gibt,
Dem wird gleich die ganze Hand genommen. 

Gabst du? Wohl, du gabst. Nun warte nicht,
Daß die Jahre dir die Schuld begleichen.
Wag‘ s, ob auch die Klugheit widerspricht,
Soll und Haben kühnlich auszustreichen.

Dieses nur. Dann leg den Stift beiseit‘,
Armut wird dich unversehns versöhnen,
Ja, sie selbst, die karge Endlichkeit,
Will dich ans Unendliche gewöhnen.

Diese Worte des Dichters Albrecht Goes kennzeichnen den Charakter des Alterswohnheims im Sinne seiner Spender. Es sind für den Bau beinahe 350.000 DM Spendenbeiträge verbraucht worden; glücklicherweise steht noch ein gewisser Betrag für die Sicherung des Hauses gegen Wechselfälle des Lebens zur Verfügung.

Freilich wäre es unmöglich gewesen, das Heim zu erstellen, wenn der hessische Staat, damals noch vertreten durch seinen Minister des Innern, das Vorhaben nicht kräftig dadurch gefördert hätte, daß er aus Lottomitteln 240.000 DM und ferner als Landesbaudarlehen einen Betrag von ca. 330.0000 DM zur Verfügung stellte. Es möge keiner sagen oder denken, daß dies doch eigentlich für den Staat und die Regierung ganz· selbstverständlich gewesen sei, weil es sich um eine gute Sache handelte. Selbstverständlich ist nichts, und die Zahl der Bewerber um die Lottomittel und um die Landesbaudarlehen ist unerschöpflich groß. Was der eine erhält, kann der andere nicht bekommen. So sind gewiß mehrere, gut begründete Anträge auf Zuteilung von Mitteln abgelehnt worden, damit das Alterswohnheim in Darmstadt finanziert und gebaut werden konnte. Dem Herrn Minister Schneider und der gesamten Landesregierung gebührt herzlicher Dank für diese Entscheidung.

Herzlicher Dank gebührt auch dem Herrn Oberbürgermeister Dr. Engel, der den Plan gerade dadurch gefördert hat, daß er mit anderen Anträgen der Stadtgemeinde auf die Zuteilung von Lottomitteln zurücktrat. Herzlichen Dank in diesem Zusammenhang auch Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Margret von Hessen, die als Vertreterin des Roten Kreuzes an den entscheidenden Verhandlungen persönlich beteiligt war.

Jetzt komme ich zu der anderen Gedankenreihe, die sich für diese festliche Stunde anbietet, zu den Frauen und Männern, die in den letzten Wochen das Heim bezogen haben. Es sind 3 Ehepaare, 101 Frauen und 5 Männer. Die Zahl der Bewerber war viel, viel größer; ein Beweis für die Notwendigkeit des Hauses und die beste Rechtfertigung für die bereits im Gang befindlichen Bemühungen um seine Erweiterung. Mögen die Insassen hier das finden, was sie nach ihrem arbeitsreichen Leben erhoffen und sich verdient haben: Ruhe – Geselligkeit untereinander – die Bequemlichkeiten, die heute die Technik für den Haushalt bietet – und die Möglichkeit der Teilnahme an den kulturellen Einrichtungen und am städtischen Leben überhaupt. Die Bewohner sind unabhängig in ihrer Alltäglichkeit, sie sind Mieter und nicht Heiminsassen, sie sind eigenständig in ihrer Haushaltsführung, im Essen und in ihrer Tageseinteilung; aller Zwang der gemeinsamen Verpflegung und des einheitlichen Tagesablaufs entfällt. Es ist nur ein Wohnheim, und ich meine, daß darin für die Bewohner große Vorteile eingeschlossen sind. Die mit 35,– DM pro Raum angesetzte monatliche Höchstmiete einschließlich Heizung und Warmwasserversorgung ist allein durch die Tatsache zu erklären, daß der Verein keine Zinsen für das aufgewandte Baukapital zu zahlen braucht. Daher öffnet das Haus seine Pforten vorzugsweise den Minderbemittelten: Ehepaaren mit einem Einkommen von höchstens 400,– DM monatlich und Einzelpersonen mit einem Einkommen von höchstens 280,– DM monatlich.

Nunmehr kommt alles auf die Atmosphäre an, die in diesem Hause herrscht, auf den Geist, der es durchdringt. Wir Mitglieder des Kuratoriums und des Vorstandes hoffen und sind davon überzeugt, daß wir in Fräulein Wedel die bestmögliche Hausbetreuetin gefunden haben, und danken der Stadtverwaltung dafür, daß sie uns Fräulein Wedel überlassen hat. Es ist gewiß ein schönes Amt, das ihr angetragen wurde, den Alten zu dienen, einen übersichtlichen Wirkungskreis persönlich zu gestalten und ihm den richtigen Geist einzugeben. Wie ich mir das vorstelle, das hat der Dichter Martin Boras stimmungsvoll in den drei Strophen seines „Nachtliedes“ gesagt, die hier motivisch verstanden sein wollen:

Daß du bei mir bist,
da es dunkel ist
und der Regen auf die Hütte fällt!
Alles um uns her
ist so ängstend leer;
ach, wie unbegreiflich ist die Welt.

Daß dein Herz sich regt,
daß es lebt und schlägt,
daß wir Menschen sind: wie ist das nur?
Wer hat uns erdacht?
Wer das All vollbracht
und bedeckt mit Rätseln seine Spur?

Auf der Erde hier
wohin fliegen wir
mit dem Monde durch den Sternenraum?
Komm ganz nah zu mir.
Ja, ich bin bei dir,
Ach, vielleicht ist alles nur ein Traum.

Sie sollen nicht allein sein, die Alten hier in unserem Alterswohnheim; sie sollen die Gemeinschaft wissen und fühlen, die sie trägt – die Gemeinschaft des Heimes, die Gemeinschaft der Spender und die Stadtgemeinde als letzten Hort. Sie sollen einen ruhigen Lebensabend haben in unserer Welt, die voll Angst und Unruhe ist.

Komm ganz nah zu mir wenn dir danach ist.
Ja, ich bin bei dir- sagt das Heim, sagt seine Leiterin.
Ach, vielleicht ist alles nur ein Traum- wir wissen es nicht.

Ich könnte auch sagen: Möge die Liebe Gottes, die höher ist als alle menschliche Vernunft, den Geist dieses Hauses durchdringen.

Damit ist noch nicht alles bezeichnet, was diesem Hause dient. Ich bin davon überzeugt, daß die glückliche Nähe zu dem Nachbarschaftsheim im Prinz-Emil-Schlößchen wesentlich zu dem Wohlbefinden der Insassen beitragen wird. Frau Dr. Feick, seine Leiterin, wird sich darum, solange sie noch in Darmstadt ist, eifrig bemühen und sicherlich auch für die Zukunft vorsorgen. Herzlichen Dank auch ihr.

Ich komme zum Schluß meiner kleinen Festrede, indem ich ein paar Worte an meinen Freund Kurt Jahn richte. Ohne ihn stände dieses Haus nicht. Es muß immer einer da sein, der den ersten Gedanken hat, daß etwas geschehen soll. Es muß immer einer da sein, der die Parole prägt und ständig wiederholt und die anderen um sich schart, damit die nötige lebendige Kraft von ihnen ausgeht. Das war für das Alterswohnheim Kurt Jahn. Unverdrossen hat er für seine Idee geworben und gekämpft. Er ließ keinen Zweifel an dem Gelingen seines Vorhabens aufkommen. Er hat es geschafft. Ihm gebührt unser aller Dank. Er hat sich in dem Alterswohnheim ein Denkmal gesetzt, ohne es jemals mit seinem Namen zu verbinden. Das will Kurt Jahn nicht; er weiß, daß es im öffentlichen Leben in der Regel keinen Dank gibt, und hält es wohl mit Joachim Ringelnatz – bitte entschuldigen Sie, daß ich zum dritten Male einen Dichter bemühe -, der schrieb:

Schenke herzlich und frei.
Denke dabei,
Was in dir wohnt
An Meinung, Geschmack und Humor,
So daß eigene Freud zuvor
Dich reichlich belohnt.

Schenke mit Geist, ohne List;
Sei eingedenk,
Daß dein Geschenk
Du selber bist.

So handelte Kurt Jahn. Wir danken ihm. Vielleicht wird dieser Dank eines Tages eine sichtbare Form annehmen. Möge das Darmstädter Alterswohnheim als Denkmal eines guten Bürgersinnes vielen alten Frauen und Männern einen geruhsamen Lebensabend gewähren, wie wir ihn uns alle wünschen.


 

Festrede zur Einweihung des Altenwohnheims in Darmstadt am 9. Mai 1960