Darmstadt und seine Bürgerstiftung


Darmstadt und seine Bürgerstiftung Von Hans J. Reinowski

Darmstadt und seine Bürgerstiftung
Von Hans J. Reinowski

Von Hans J. Reinowski

Wer über das erste Jahrzehnt der Bürgerstiftung Darmstadt berichten und für diese schöne Gemeinschaft werben will, der muß die Quellen ihrer Entstehung und die Gründe ihres Gedeihens aufspüren; der muß sie in die jüngsten geschichtlichen und gemeindepolitischen Zusammenhänge der guten Stadt Darmstadt stellen, sonst wird er seiner Aufgabe nicht gerecht. Wir leben in einer hektischen Zeit. In zehn Jahren wird viel vergessen.

Wir leben in einer Zeit der stürmischsten – von Friedrich Nietzsche vor der Jahrhundertwende verkündeten – Umwertung aller Werte; in einer Zeit der rasanten Zerfaserung altüberkommener moralischer Begriffe und Bindungen; in der Zeit eines scheinbar allgemein drohenden Sittenverfalls. Es ist eine Zeit voller Zweifel, in der man sich fragen muß, ob es noch angemessen und stilgerecht sei, von einer Siedlung, einem Wohnort und Werkplatz wie Darmstadt als von einer guten Stadt zu sprechen; ob es so etwas heutzutage überhaupt noch gibt.

Und doch ist es wahr. Darmstadt ist seit der vor fünfundzwanzig Jahren im Hitlerkrieg erlittenen Zerstörung wieder eine gute und schöne Stadt, ein menschenwürdiges und wohnliches Gemeinwesen geworden; besser, schöner und reicher an Lebhaftigkeit und Wohlfahrt, als es jemals gewesen ist.


 Eine gute und schöne Stadt

Jedermann weiß es hierzulande und anderwärts: Das wiedergeborene Darmstadt ist dank der Haltung und Leistung seiner alteingesessenen und neu angesiedelten Bürgerinnen und Bürger aller Gesellschaftsschichten und Landsmannschaften eine geistig regsame, in jedem Sinne des Wortes aufgeschlossene Stadt, in der nicht nur die Künste- die gekonnten wie auch die vorgetäuschten -, sondern auch die nicht musisch tätigen Menschen mit ihren Gewerben behaglicher leben und besser gedeihen als in vielen anderen deutschen Städten.

Die ehemals großherzogliehen Urdarmstädter sind – auch als gute Republikaner und Demokraten, sogar wenn sie sich selbst als Aufrührer empfinden – stolz auf diesen ihren früheren Status, den sie, dank der urbanen Liberalität einiger ihrer damals regierenden Fürsten, noch immer als Auszeichnung betrachten. Ihr Geschichtsbewußtsein ist von einer rührenden Anhänglichkeit an die letzten Vertreter des Herrscherhauses und an Überlieferungen einer guten, alten, musisch bewegten Zeit geprägt, durch die – in etwa zeitlicher Reihenfolge – Gestalten wie Mathias Claudius, Georg Christoph Lichtenberg, Johann Heinrich Merck, Johann Wolfgang von Goethe, Ludwig Weidig, Georg Büchner, Justus von Liebig, Georg Gervinus, Ernst Elias Niebergall, Hermann Graf Keyserling, Hans Schiebelhuth und Kasimir Edschmid sowie die Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner, Carlo Mierendorff und Ludwig Schwamb geistern.

Die Urdarmstädter sind seßhaft, geistig regsam, duldsam in großen, streitlustig in kleinen Dingen. Ihre zugewanderten fremdstämmigen Mitbürger werden von ihnen mit lässiger Skepsis, bestenfalls mit freundnachbarlicher Zutunlichkeit auf Distanz betrachtet, das heißt – noblesse oblige – mit großherzoglich liberaler Urbanität.


 

Zuflucht für Neubürger

Das gilt freilich nicht für die Stadtobrigkeit, deren verantwortliche Männer, der frühere Oberbürgermeister Ludwig Metzger und der jetzige Oberbürgermeister Dr. Ludwig Engel, sich stets um den Zuzug ortsfremder Bürger – als da sind Unternehmer, Gewerbetreibende, Kaufleute, Handwerker und Künstler- bemüht und deren Vorhaben nach Kräften gefördert haben. Sie wußten, daß ohne eine kräftige Blutzufuhr und Beatmung von außen das bis auf den Tod verwundete Darmstadt nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder in seinem früheren Range lebensfähig geworden wäre.

Darum ist ihnen auch der Zuzug zahlreicher ansehnlicher Betriebe und Unternehmen zu danken, die dem Stadtwesen durch ihr frisches Blut neues Leben eingehaucht haben.

Die Männer der Darmstädter Stadtobrigkeit waren trotz ihrer vermeintlichen oder auch wirklichen ideologischen Bindungen weitblickende kommunalpolitische Fuhrleute, die ihrem Gemeinwesen zuliebe geschickt und vorurteilslos zweigleisig fuhren. Verwaltungspolitisch haben sie sich den Anteil an der Macht möglichst lautlos und reibungslos nach dem Parteienproporz geteilt, wobei sie zuweilen die Fünf gerade sein ließen.

In der Aufbaupolitik hingegen haben sie – hat vor allem der jetzige Oberbürgermeister Dr. Ludwig Engel – entschlossen und souverän den Gedanken der Gewaltenteilung fortentwickelt und auf die Darmstädter Verhältnisse angewandt, den der französische Baron, Staatsphilosoph und Mitbegründer der Französischen Akademie, Charles Montesquieu, in seinem Hauptwerk „Geist der Gesetze“ im Jahre 1748 als Merkmal jeder Rechtsstaatlichkeit verkündet hat.


 

Kluge Gewaltenteilung

In der Erkenntnis, daß außergewöhnliche Zeiten und Umstände außergewöhnliche Mittel erfordern und daß bei gewissen Mahlzeiten viele Köche den oftmals recht heißen Brei eher verderben als nahrhaft und schmackhaft zubereiten, hat Oberbürgermeister Dr. Ludwig Engel in verständnisvoller Zusammenarbeit mit dem damaligen Stadtkämmerer Dr. Gustav Feick auf Magistratsbeschluß bei der Neubelebung der Stadt das Wagnis unternommen, die gesamte Planung und Ausführung dieses für Darmstadt entscheidenden Vorhabens der Einrede kollektiver Ansichten, Einsichten und Entscheidungen zu entziehen.

Er löste den ganzen Komplex der Ansiedlung neuer Firmen in Darmstadt, die im wesentlichen nur nach privatwirtschaftlichen und kaufmännischen Gesichtspunkten zu regeln war, aus dem Arbeitsbereich und der Entscheidungsgewalt der städtischen Behörden und Körperschaften heraus und übertrug sie einem einzigen Fachmann, dem aus Thüringen stammenden Architekten Kurt Jahn, dem der unvorbehaltene Beistand zweier hessischer Finanzminister zuteil  wurde: des inzwischen verstorbenen Sachsen Dr. Werner Hilpert und des nunmehrigen Bundesbankvizepräsidenten, des Mittel-Preußen Dr. Heinrich Troeger.

Gemeinsam mit der Stadt gründete Kurt Jahn die Darmstädter Wiederaufbaugesellschaft, in der dieser hervorragende Planer und Gestalter eines neuen Stadtviertels viele tausend neue Arbeitsplätze schuf, neue Einnahmequellen für den Stadtsäckel erschloß und der Stadt nicht nur eine neue Daseinsgrundlage, sondern zugleich auch ein zeitgerechtes, schönes Gesicht geben half. Der auf dem ehemaligen Exerzierplatz und in dessen weiteren Umgebung großartig angelegte Industriepark mit seinen zahlreichen, in Grünanlagen eingebetteten Großdruckereien, Fabriken und sonstigen Unternehmen ist seine Schöpfung.

Dem gleichen Mann ist auch die Idee und die Gründung der „Bürgerstiftung Darmstadt“ zu danken, die früher ,,Stifterverein Altenwohnheim“ hieß. Dieser Zusammenschluß von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt hat bisher mit Hilfe von freiwilligen Spenden, die immer ohne jeden Abzug für Spesen und ohne jeden Pfennig Verwaltungskosten dem Stiftungswerk hundertprozentig zugute kamen und kommen, im Prinz-Emil-Garten zu Darmstadt in mehreren Bauabschnitten ein neuzeitlich schönes, zweckdienliches Altenwohnheim erbaut und eingerichtet, das allerseits Zustimmung gefunden hat und von allen Fachleuten in Anlage und Verwirklichung als einmalig wohlgelungen bezeichnet wird.

Hier wohnen vorerst über zweihundert minderbemittelte Mitbürger – nach Fertigstellung des letzten Bauabschnittes werden es über dreihundert sein -, deren Einkünfte zu gering sind, um die Miete für eine menschenwürdige Wohnung aufzubringen. Bei diesen Bewohnern handelt es sim nicht etwa um aus eigenem Unvermögen gestrandete Existenzen, sondern um Menschen, die früher zumeist wohlhabend gewesen sind und in geordneten Verhältnissen gelebt haben, die aber durch Krieg, Gewalt oder Schicksalsschläge Besitz und Versorgungsansprüche eingebüßt haben.


 

Alte Darmstädter

Zu einem seitengerechten und farbechten Bild der Darmstädter Nachkriegszeit gehören die Anstrengungen, die von den alteingesessenen Unternehmen und deren Angehörigen, soweit sie daheim waren, in dieser Zeit unternommen wurden, ihre teilweise arg zerstörten und sonstwie in Mitleidenschaft gezogenen Betriebe wieder arbeitsfähig zu machen, um so ihren Beitrag zur Wiedergeburt ihrer altangestammten Heimatstadt zu leisten und Lohn und Brot unter ihre ihnen oft seit Jahrzehnten und Generationen treuen Arbeitnehmer zu bringen.

Da ist die Technische Hochschule mit ihrem weltweiten Ansehen; da sind die Wissenschaftler, die Männer und Frauen der geistigen Berufe; da ist die alte, berühmte Weltapotheke, deren Erzeugnisse Darmstadts Ruhm bis in die äußersten Winkel der Erde tragen; da ist der in Darmstadt erfundene und auch hier hergestellte „Königliche Kunststoff“, das unvergleichbar schöne Plexiglas, das sich alle Märkte der Welt erobert hat; da sind die unübertrefflichen Notenpressen, die hier gebaut werden und den Bedarf an Geldscheinen, Wertzeichen und kostbaren Formularen aller Völker und Staaten decken können; da sind die vielen, vielen anderen Fabriken von internationalem Ruf, die Handelsfirmen, Mittelbetriebe und Handwerker; die alle zu ihrem Teil am Wiederaufbau der Stadt mitgewirkt haben, wie auch die Beamten und sonstigen Arbeitnehmer der Behörden und öffentlichen Dienststellen.


 

Der Neuaufbau

Aber der oben geschilderte zusätzliche Neuaufbau der Stadt und die Bürgerstiftung sind in den ersten Jahren vorwiegend von den neuangesiedelten Bürgerinnen und Bürgern aus allen deutschen Himmelsrichtungen und Landsmannschaften getragen worden; von Männern und Frauen aus Anhalt, Berlin, Brandenburg, Braunschweig, dem Buchenland, aus Mecklenburg, Ostpreußen, Pommern, Sachsen, Schlesien, Siebenbürgern, dem Sudetengebiet, Thüringen, Westpreußen, Ungarn – und schließlich sogar aus Hamburg und Baden-Württemberg. Die meisten von ihnen waren aus den sowjetischen Gebieten Deutschlands östlich der Elbe und Werra geflohen, wo die totalitäre Staatsgewalt wohl für ihr Eigentum, nicht aber für ihre unternehmerische Tatkraft Verwendung hatte.

Wer diesen Zuzüglingen, Neubürgern- oder „Eingeplackten“, wie man sie auf Darmstädtisch nennt- im Laufe der Jahre ein wenig nähergekommen ist, der hat gar bald begriffen, daß sie sich in den liebenswürdigen und sonstigen menschlichen Eigenschaften der Urdarmstädter nur durch Schattierungen unterscheiden. Auch sie haben ihre Oberlieferungen und Erinnerungen, die sie mit hierher gebracht haben und an denen sie hängen. Jedes Volk, jede Landsmannschaft braucht Legenden- das ist menschlich unerläßlich zur Bestätigung und Aufrechterhaltung der jeweiligen Reputation.
Während es den alteingesessenen und den neueingebürgerten Einwohnern Darmstadts zuweilen schwerfällt, einander persönlich gelten zu lassen, entspricht beider Gruppen gewerbliche Daseinsführung der altbewährten praktischen Redensart „Leben und leben lassen“.


 

Ein gutes und schönes Land

Zwar leben – wie auch sonstwo in Deutschland; wie auch vor allem in den kommunistischen Paradiesen – in Darmstadt nicht alle Menschen gleich gut. Aber was für die nunmehr zwanzig Jahre alte Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen gilt, das gilt für Darmstadt besonders. Niemals ist es auf deutschem Boden so vielen Menschen materiell und ideell so gut ergangen wie jetzt, fünfundzwanzig Jahre nach dem Sturz Adolf Hitlers, nach dem Zusammenbruch und der bedingungslosen Unterwerfung des Dritten Reiches unter die Machtgebote der Siegerstaaten und nach dem formlos folgenden Kriegsschluß. Niemals zuvor haben Menschen auf deutschem Boden einen größeren Anspruch auf Freiheit, Recht und Menschenwürde besessen als gegenwärtig.

Freilich sind weder in Darmstadt noch im sonstigen Bundesgebiet die Zustände und Verhältnisse in Staat und Gesellschaft ideal. Sie sind nicht vollkommen, denn sie sind Menschenwerk. Vieles, was heute ist und besteht, wird untermauert, umgebaut, erweitert, erneuert werden müssen. Aber das Bauwerk steht. Es kann sich sehen lassen, lobt seine Erbauer und wird weithin bewundert.


 

Eine geschlagene Generation

Das haben deutsche Menschen erreicht, die den totalitären Wahnwitz des großdeutschen Führers und seiner verbrecherischen Paladine nicht zu verhindern und die daraus entstehenden Folgen nicht abzuwenden vermocht hatten.

Soweit sie den totalen Niederbruch einigermaßen an Leib und Seele gesund überlebt hatten, haben sie mitten in ihrer Trostlosigkeit, inmitten ihrer unüberschaubaren Trümmerwelt schicksalsergeben in die Hände gespuckt und zugepackt, um das unfaßbare, unermeßliche Grauen zu überwinden, in das sie gestürzt worden waren, um – wenn es ihnen vergönnt sein würdeeine neue lebenswerte Ordnung zu errichten.

Niemals zuvor in der Geschichte unseres Volkes hat eine Generation soviel Angst ausstehen, soviel aufgeben und darben, soviel Selbstüberwindung und Lebensmut aufbringen, soviel auf sich nehmen und schuften müssen, wie die Generation der heute gealterten deutschen Menschen, deren nachgeborene Jahrgänge auf den über die Erde verstreuten Schlachtfeldern so ausgeblutet waren, daß sie sich nur zögernd und schütter in die Aufbauarbeit der älteren Bürger einreihen konnten.


 

Eine bewundernswerte Leistung

Von Hunger, Kälte und Hitze, Zerknirschung und Zorn gepeinigt, von Mißtrauen und Ratlosigkeit ausgelaugt und gequält, vom totalen Währungsverfall und vom Schwarzmarkt betrogen, räumten, planten und bauten sie, bis – nach Friedrich Schillers tröstlichem Wort- neues Leben aus den Ruinen blühte.

Die Menschen, die eine solche – heute unvorstellbare – Haltung und Leistung aufbrachten, sind gegenwärtig, soweit sie noch leben, in ihrer überwiegenden Mehrheit älter als fünfzig Jahre. Zwanzigtausend von ihnen – in der Bundesrepublik Deutschland etwa sieben Millionen Männer und Frauen – haben in Darmstadt mit fünfundsechzig Lebensjahren die sogenannte Altersgrenze erreicht und überschritten. Sie haben ihre Pflicht gegenüber sich selbst, ihren Kindern und der Gemeinschaft, in der sie leben, getan. Wer vor ihnen den Hut zieht und ihnen dankt, der handelt zu seiner eigenen Ehre im Geiste des Religionsphilosophen und Jugendführers Romano Guardini, der 1885 in Verona geboren wurde und nach einer langen Lehrtätigkeit in Deutschland vorigen Jahres zu München starb. Das Bekenntnis des edlen Mannes in seiner „Sorge um den Menschen“ mahnt über sein Grab hinaus: „Es hängt viel, auch in soziologischer und kultureller Beziehung, davon ab, daß verstanden werde, was der alternde Mensch im Zusammenhange des Ganzen bedeutet. Daß der gefährliche Infantilismus überwunden werde, nach welchem nur junges Leben menschlich wertvoll sei. Daß unser Bild vom Dasein die Phase des Alters als Wertelement enthalte, damit der Bogen des Lebens voll werde.“ (Zitiert nach: Maria Stirtz, „Wie leben die Alten in unserer Stadt?“ Sonderdruck Roether-Verlag, Darmstadt 1962/63).


 

Der Anspruch der Alten

Das klingt etwas menschenfreundlicher als die Lehre mancher neuen Wahrheitsapostel, die sich in der Pädagogik, der Wissenschaft von der Jugenderziehung, tummeln und die Dankbarkeitspflicht der Jugend gegen die Eltern leugnen und die der älteren Generation verkünden, sie habe zu lernen, daß Jugendliche Anspruch auf jede Hilfe, die Eltern aber keinen Anspruch auf Dankbarkeit haben.

Hier wird der frevelhafte Versuch unternommen, die natürliche Erbfolge der Geschlechter zugunsten der Jugend aufzuheben und die für jede menschliche Gesellschaftsordnung, ihren Fortbestand und ihre Weiterentwicklung lebensrietwendigen materiellen und moralischen Zusammenhänge zu zerstören, das heißt, die Gesellschaft aufzulösen.

Der Sittenlehrer Romano Guardini verwirft die menschenfeindliche Lehre, indem er den Anspruch der Alten auf Dank und Anerkennung verkündet: „Daraus ergibt sich aber auch die Folgerung, daß die Allgemeinheit dem alternden Menschen redlich und freundlich das Recht des Lebens gebe, das ihm zukommt, ihm ermöglicht, sein Alter richtig zu vollziehen: Denn das hängt nur zu einem Teil von ihm, zum anderen davon ab, ob seine Umgebung, seine Familie, sein Freundeskreis, darüber hinaus aber auch der soziale Zusammenhang, die Gemeinde, der Staat, ihm jene Lebensbedingungen geben, die er selbst sich nicht geben kann.“


 

Der Wille zum Guten

Hier klingt die sittliche Forderung an, daß es sich bei der Altenhilfe von seiten der noch berufstätigen Erwachsenen und der heranwachsenden Jugend  nicht nur um ein mechanisches .Nehmen und Geben, um ein seelenlos korrektes „Wie du mir, so ich dir“ handeln darf, sondern daß es im Verhältnis der Jungen zu den Alten und Hilfsbedürftigen moralische Antriebe – etwa der Dankbarkeit, etwa des liebevollen Verständnisses, etwa des guten Willens zur Wohltätigkeit, etwa des Pflichtgefühls gegenüber dem schwächeren Mitmenschen – geben muß, wenn nicht die Lehre jener Jugenderzieher sich durchsetzen soll, welche das Recht der Kinder auf jeden Undank gegenüber den Eltern verkündet.

Mag eine solche Parole auch noch so wissenschaftlich verbrämt sein, sie widerspricht schon darum dem jedem gesunden Menschen innewohnenden ethischen Verlangen nach irdischer Gerechtigkeit, weil keine Generation voraussagen kann, welche Verhängnisse sie dereinst am Ziel ihrer eigenen Tage ihrem Nachwuchs hinterlassen und vererben wird.


 

Darmstadt als Hort sozialer Verpflichtung

Glücklicherweise wird eine so unverantwortliche innere Einstellung, die auf ein Mißachten der menschlichen Grundrechte hinauslaufen muß, weil sie die Komponenten zwischen Freiheit und Bindung, zwischen Recht und Pflicht, zwischen Selbstsucht und Verantwortlichkeit verzerrt, von der Mehrheit unseres Volkes nicht bejaht, sonst gäbe es nicht die umfassenden Sozialeinrichtungen mit ihren großen Leistungen, die Staat und Gesellschaft für die betagten, ausgedient habenden Bürgerinnen und Bürger unseres freien Gemeinwesens heute erbringen, um den Feierabend der Ruheständler zu sichern und erträglich zu gestalten.

Es gäbe auch nicht die über das ganze Bundesgebiet verstreuten, in Darmstadt besonders rührigen freiwilligen Zusammenschlüsse, in denen Jugendliche und Erwachsene aus eigener innerer Verpflichtung – heiße sie Nächstenliebe, heiße sie Solidarität, heiße sie schlecht und recht Dankbarkeit – viel Zeit und Kraft aufbringen, um den Alten in der Gemeinschaft beizustehen.

Darmstadts Sozialdezernent, Stadtrat Horst Seffrin, ein Altdarmstädter mit allen früher erwähnten sympathischen Eigenschaften dieser besonderen Spezies unter den Bundesbürgern, dazu die personifizierte Hilfsbereitschaft, hat diese Vereine und Körperschaften nach einer großangelegten Umfrage unter den Ruheständlern in einem umfassenden Magistratsbericht über die Lage der alten Menschen in Darmstadt aufgezählt; die Verbände der freien Wohlfahrtspflege (Diakonisches Werk, Caritasverband, Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband und Jüdische Gemeinde), die Lebensabendbewegung, den Verein für Hauspflege, das Sozialwerk des Hausfrauenbundes, die Gemeindekrankenpflegeanstalten, das Nachbarschaftsheim, die Bürgerstiftung, die Jugendgruppen und ihre Verbände, die Kirchen, die politischen Parteien und die Verbände der Kriegsbeschädigten.


 

Altersbewegung und Gesellschaftsstruktur

Die Zahl der Menschen, die nach Erreichung des fünfundsechzigsten Lebensjahres versorgt werden müssen, wächst ununterbrochen an. Ursachen dieser Steigerung sind die Fortschritte der Technik, der Medizin, der Volkshygiene, der Sozialordnung in der modernen Gesellschaft, durch die sich die mittlere Lebenserwartung der Menschen im Laufe des letzten Jahrhunderts mehr als verdoppelt hat.

Sie geht Hand in Hand mit einer ständigen Verlängerung der Ausbildungszeiten für die Jugendlichen aller Schularten und Berufe, vor allem aber mit einem wesentlich späteren Eintritt in das volle Erwerbsleben der akademischen und sonstigen gehobenen Berufe. Konnte früher für den Vollerwerb eines Bürgers im Durchschnitt eine Dauer von vierzig bis fünfzig Jahren angesetzt werden, so stehen gegenwärtig dem werktätigen Menschen für seine volle Erwerbstätigkeit bis zur Erreichung der Altersgrenze höchstens dreißig bis fünfunddreißig Jahre zur Verfügung, und zwar bei einer um ein Drittel verkürzten Arbeitszeit. Das heißt, der Einzelmensch muß heutzutage in viel geringerer Zeit um einen wesentlich gestiegenen Anspruch an seine Lebenshaltung und Altersvorsorge bemüht sein.

Die neuen Formen der Erwerbstätigkeit und des gesellschaftlichen Lebens haben gleichzeitig zu einer Lockerung und Abbröckelung der früher einmal üblichen und von allen ihren Angehörigen als natürlich empfundenen Großfamilie geführt, in der zwei oder drei Generationen in friedlichem Einvernehmen und sinnvoller Aufgabenteilung gemeinsam miteinander lebten.


 

Jung für sich und Alt für sich

Die aus der technischen Entwicklung geborene Konsumgesellschaft hat einen völligen Umbruch im Lebensstil der gesamten Bevölkerung zur Folge gehabt.

Die Wohnung ist kleiner und komfortabler, die Ernährung ist reichhaltiger und kostspieliger, die Freizeitgestaltung und Geselligkeit sind freizügiger und aufwendiger geworden; die alten Gewohnheiten werden über den Haufen geworfen. Die Bedürfnisse und Ansprüche an den vermeintlichen oder wirklichen Komfort unserer Zeit sind seit wenigen Jahrzehnten ins Unvorstellbare gesteigert und vervielfacht worden, wobei die alternden Menschen stärker als früher zwar nicht materiell, wohl aber geistig den Anschluß verloren haben. In stärkerem Maße als früher sind sie ins Hintertreffen geraten, „ verstehen die Zeit nicht mehr“ und fühlen sich abgeschrieben.

Die Berechtigung ihrer Gefühle geht deutlich aus der Massenwerbung unserer Konsumgesellschaft hervor, die sich nur in ganz speziellen Branchen an alte Verbraucher, im großen und ganzen aber nur an junge, leistungsfähige, strahlende Menschen richtet und zur Verfälschung des Strukturbildes unserer Gesellschaft beiträgt.

Der genealogisch bedingte und durchaus natürliche Trennungsprozeß „Jung für sich, Alt für sich“ ist durch die Entwicklung beschleunigt worden und hat das Unverständnis zwischen den Jungen und Alten erweitert.

Junge Ehepaare sind in den weitaus meisten Fällen ebenso wenig geneigt, im Notfall ihren Wohnraum mit ihren gealterten nahen Verwandten zu teilen wie die Alten es ihnen gegenüber sind. Jede Generation ist von dem Gedanken beherrscht, das eigene Reich für sich allein zu haben und darin nach eigenem Belieben schalten und walten zu dürfen. Für die Alten haben Staat und Gesellschaft zu sorgen und aufzukommen, nicht aber der Nachwuchs. Das ist die Einstellung.

Das geht auch gut, solange die alternden Menschen, verheiratet oder alleinstehend, noch rüstig genug sind, um ihren Haushalt ausreichend führen zu können, solange sie imstande sind, sich aus eigener Kraft zu beköstigen, zu kleiden, ihre Wohnung zu beheizen und sauber zu halten, ihre Wäsche zu pflegen, ihre Einkäufe und sonstigen kleinen geschäftlichen Angelegenheiten zu erledigen und sich auf ihre Weise in bescheidenem Maße des Daseins allein oder im Kreise von Freunden und Nachbarn zu erfreuen.


 

Die Furcht vor dem Pflegefall

Die Schwierigkeiten treten erst auf, wenn sich Kräfteschwund und Altersgebrechen einstellen, wenn die körperlichen und seelischen Bürden der Einsamkeit ins Schwere und schließlich ins Unerträgliche wachsen und wenn zugleich die Einkommen schmal sind. Dann beginnen die Sorgen; die Angst vor der Zukunft meldet sich, die Furcht, ohne fremde Hilfe nicht mehr weiterzukommen, ein „Pflegefall“ geworden zu sein und sich der Obhut der Oberin, der Schwester, der Pflegerinnen und Pfleger eines Heimes oder einer Anstalt anvertrauen zu müssen.

Wenn diese Schrecken mitsamt der angstvollen Scheu vor der im Heim notwendig reglementierten Lebensweise angesichts des guten Willens und der Hingabe des Pflegepersonals an einen schweren Beruf auch mit Ungerechtigkeit und Starrsinn untermischt sind, so darf nicht verschwiegen werden, daß für viele alte Menschen die Einweisung in ein Heim der Ankunft auf der letzten Wartestation vor der großen Reise ins Jenseits gleichkommt. Daran ändert alle Anstrengung und Mühe, den Schützlingen ihren Lebensabend den Umständen nach so behaglich und leicht wie möglich zu gestalten, nur wenig. Alte Menschen sind meist um so eigensüchtiger und mißtrauischer, je kränker und hilfloser sie sind, ohne um ihren Zustand zu wissen.

Darum muß es das Ziel aller Sozialbestrebungen gegenüber dem Alter sein, den alternden Männern und Frauen den Weg in das Pflegeheim und den Zwang zum reglementierten Heimdasein so weit und so lange wie möglich zu ersparen.


 

Das Altenwohnheim

Einen willkommenen Ausweg aus diesem Dilemma bietet für die leidlich gesunden und rüstigen Ruheständler, die ihre bisherige Behausung aus irgendwelchen Gründen nicht behalten können, eine verhältnismäßig junge, doch voll erprobte Sozialeinrichtung: das Altenwohnheim. Es bietet den alternden Menschen eine angemessene, der heutigen Zeit entsprechende Zuflucht; eine für Einzelgänger oder Ehepaare zugeschnittene kleine Behausung, die mit allen Erfordernissen des heutigen Wohnkomforts und mit allen für alte Menschen notwendigen Bequemlichkeiten ausgestattet ist. Die Möbeleinrichtung und das sonstige Zubehör bringen die Heimbewohner mit. Sie richten die Räume nach ihrem eigenen Geschmack ein, beköstigen sich selbst und leben nach ihren bisherigen Gewohnheiten, ohne darum auf kleine Hilfen und Handreichungen des Heimpersonals und ihrer gleichaltrigen Nachbarn oder auf Unterhaltung und Geselligkeit verzichten zu müssen, wenn es sie danach verlangt.

Diesen Gedanken hat der Leiter der Wiederaufbaugesellschaft Darmstadt, Kurt Jahn, aufgegriffen und ihn sich in einer geradezu atemberaubenden Vehemenz zu eigen gemacht. Um den Erfolg seiner Anstrengung auf diesem Gebiete ermessen zu können, ist ein kurzer Überblick über die Lage der Ruheständler und Altersrentner in Darmstadt vonnöten.


 

Die wirtschaftliche Lage der Alten

Die meisten über fünfundsechzig Jahre alten Mitbürgerinnen und Mitbürger Darmstadts sind, soweit sie in ihrem Dasein langfristig erwerbstätig waren und ihren Versicherungspflichten ordnungsgemäß nachgekommen sind, dank der neuen Sozialordnung mit ihren angemessenen Pensionen und Renten wirtschaftlich so gestellt, daß sie sich finanziell ohne fremde Hilfe behaupten können. Das trifft auch für jene kleine Gruppe besonders bevorzugter Mitbürger zu, die entweder aus eigenem Vermögen leben oder von ihren begüterten Angehörigen versorgt werden.

Fast achtzehntausend der alten Darmstädter beziehen Sozialversicherungsrenten oder Beamtenpensionen; etwa zweitausend müssen von Versorgungsrenten oder Kriegsschädenrenten leben; etwa eintausend sind auf öffentliche Sozialhilfen angewiesen. Für die Bedürftigsten unter ihnen stehen Hausbrandhilfen, Weihnachtsbeihilfen, Mietzuschüsse und – von Fall zu Fall – sonstige Einzelbeihilfen bereit.

Eine Umfrage des städtischen Sozialamtes erweist, daß über sechzig von hundert Angehörigen dieses Personenkreises ein Monatseinkommen von mehr als 450 DM (die Hälfte davon über 800 DM), mehr als dreißig von Hundert von 250 DM bis 450 DM und nahezu zehn von hundert weniger als 250 DM zur Verfügung haben.

Etwa achtzehntausend Ruheständler wohnen privat, sind mit ihren Behausungen und ihrem Dasein den Umständen nach zufrieden und weisen, solange sie keiner Hilfe bedürftig sind oder sie nicht entbehren müssen, den Gedanken an einen Umzug in die Obhut eines wie auch immer gearteten Heimes von sich.

Aber die Zahl der Greise und Greisinnen, die – bei all ihrer Rüstigkeit und all ihrem Mut, das Leben auch im Alter zu meistern – menschenwürdig behaust werden müssen, nimmt ständig zu.

Zur Zeit sind etwa eintausendvierhundert Plätze in Pflegeheimen (300), Altersheimen (700) und Altenwohnheimen (400) belegt. Es fehlen rund achthundert Plätze; etwa einhundert in Pflegeheimen, einhundert in Altersheimen und sechshundert in den neuartigen, bei den alten Menschen beliebten Altenwohnheimen.

Die Plätze in den Pflegeheimen und Altersheimen, die durch aufwendige Einrichtungen und starken Personalbedarf hohe laufende Kosten verursachen, müssen auf lange Sicht notgedrungen – wohl oder übel – von der öffentlichen Hand oder von weitgefächerten, finanzkräftigen Körperschaften und Sozialverbänden bereitgestellt werden, die auf diesem Gebiet beachtenswerte Leistungen aufweisen.

Aber diese Bemühungen reichen trotz aller hervorragend durchdachten und praktizierten öffentlichen Sozialtechnik nicht aus, um dem oben in nüchternen Zahlen gekennzeichneten Notstand in allen seinen Schlupfwinkeln beizukommen. Gleichviel, worauf die Geringfügigkeit und das Unvermögen vieler Alterseinkommen, das Leben ihres Empfängers zu fristen, zurückzuführen sein mag, hier ist die private Hilfsbereitschaft eines jeden wohlgeborgenen Staatsbürgers zur Behebung des Notstandes aufgerufen.


 

Der Mann hinter dem Werk

Kurt Jahn (Foto: Bürgerstiftung)

Kurt Jahn (Foto: Bürgerstiftung)

Bevor wir uns einen Augenblick mit dem Manne befassen, dem Darmstadt die Bürgerstiftung zu danken hat, sei ein kleiner Zwischenruf angebracht. Es ist in Deutschland nicht fein, von einem Manne, der in der und für die Allgemeinheit tätig ist, öffentlich etwas Gutes zu behaupten; es sei denn er sei gestorben oder feiere einen runden Geburtstag. Die Tatmenschen unserer Gesellschaft, denen das Volk oft viel zu verdanken hat und die meistens die Stillen im Lande sind, lobt man öffentlich kaum, ehe sie nicht einen Orden verliehen erhalten.

Und trotzdem! Kurt Jahn ist von Beruf ein an Einfällen und Erfolgen reicher Stadtbauer; ein „neuer Gründer der Stadt“, wie ihn Bürgermeister Dr. Ernst Holtzmann – einen altrömischen Braucht zitierend – in einer Richtfestrede genannt hat. Von Berufung ist er ein unermüdlicher Mahner zum Guten, ein von sozialem Ethos besessener, seinen Freunden und Partnern ebenso hilfsbereiter wie unbequemer Mann, dem die nicht immer hochedlen Erfordernisse der niederen Tagespolitik zu schaffen machen, weil er ihre Notwendigkeit nicht einzusehen vermag. Er klammert sich hartnäckig an den Glauben, Politiker müßten Edelmenschen sein, für die es keine Erlaubnisse geben dürfte, die dem Menschen innewohnende Mängel und Schwächen aufzuspüren und für politische Ziele auszunutzen. Seiner Überzeugung nach müßten alle Politiker ihren Mitmenschen sittliche Vorbilder sein, die weder Machtfaktoren oder Finessen noch taktische Ränke oder Schliche anwenden, sondern ihre Absichten in feinfühliger, edelmütiger Rücksichtnahme auf den politisch Andersdenkenden verfolgen.

Von solcherlei Vorbehalten allerdings nicht behindert, arbeitet er ansonsten mit den für seine Tätigkeit zuständigen Politikern trotz gelegentlicher gegenseitiger Ärgernisse und Verstimmungen ausgezeichnet zusammen wie sie mit ihm.

Kaum hatte Kurt Jahn die ersten Erfolge seiner Neubaupolitik zu verzeichnen, richtete er seinen scharfen Blick auf die Vorteile, die er seinen Geschäftspartnern, den durch seine Tätigkeit neu angesiedelten und mit besten Zukunftsaussichten ausgestatteten Unternehmern verschafft hatte, dann auf die ärmsten Darmstädter Bürger mit der geringsten Zukunftserwartung.

Sein Plan stand fest und war unabdingbar. Ohne eine wesentliche, über die Möglichkeiten der öffentlichen Hand hinausgehende private Hilfe für die vom Schicksal minder begünstigten alten Mitmenschen dieser Stadt galten ihm die zwar risikoreichen, aber erfolgverheißenden Unternehmen der von ihm herbeigezogenen Neubürger nicht viel. Eines mußte ins andere greifen, die Stadt, die mit dem neuen Zuzug neue Lebenskraft gewann, die zugewanderten Betriebseigner, die für ihre gewinnbringende Tätigkeit hier einen günstigen Nährboden gefunden hatten. Beide Gruppen mußten zusammen wirken, um nicht nur für sich selber, für ihren eigenen Bestand, ihr eigenes Wachstum, ihre eigene Geltung und Wohlfahrt tätig zu sein.

Sie mußten zeigen, daß sie bereit waren, etwas über sich selbst hinaus zu tun, wenn sich der Mittler ihrer Zusammenarbeit bei und mit ihnen wohlfühlen sollte. Sie mußten sich diese Bereitschaft etwas kosten lassen, indem sie für die am meisten hilfsbedürftigen Mitbürger ihres Gemeinwesens etwas taten, was in dieser Nachkriegszeit noch in keiner anderen Stadt getan worden war.


 

Die Vorbilder

Sie mußten nach dem Willen Kurt Jahns eine bedeutende Stiftung machen, die den Bau und Betrieb eines menschenwürdigen Wohnheims für einige hundert alte Bürgerinnen und Bürger erlaubte, so wie die Bürger Lübecks im Jahre 1280 für ihre alten Leute das noch heute bestehende Heilig-Geist-Hospital gegründet hatten, oder wie es vor mehr als vierhundertfünfzig Jahren in Augsburg geschehen war. Dort steht noch heute die städtebaulich einmalige „Fuggerei“ mit ihren vierundfünfzig Häusern zu einhundertsechs Wohnungen für arme katholische Bürger. Sie ist noch immer bewohnt und zeugt in ihrer äußeren edlen Schönheit und inneren Geschlossenheit von dem vornehmen Geist ihres Schöpfers und Stifters, des Kaufmanns Jakob Fugger.

War es – wie bei diesem großen historischen Unternehmer und Wohltäter – christliche Nächstenliebe, war es menschliche Solidarität, war es einfach der Trieb zu Wohltätigkeit und Güte, die Kurt Jahn zu seinem Beginnen zwangen? Das ist schwer zu sagen. Eher ist etwas über seine sonstigen geistigen Vorbilder zu erahnen, denen er nachgeeifert hat.

Das waren keinesfalls die weltberühmten Giganten des Stiftungswesens wie etwa Carl Zeiss in Jena, Alfred Nobel in Stockholm oder John Davison Rockefeller in New York, die nach Vollendung ihres Lebenswerkes ihre Riesenvermögen der Allgemeinheit vermachten, um der Kunst, der Forschung, der Wissenschaft, der Volkswohlfahrt und gar dem Frieden unter den Völkern damit zu dienen.

Es waren eher die volksnahen, liebenswerten Gestalten wie August Hermann Francke in Halle an der Saale, der 1695 die erste Armenschule gegründet hat; wie Johann Heinrich Pestalozzi, durch dessen Schriften die Geldsammlungen für Musterschulen zustande kamen, die sich über alle Welt ausbreiteten; wie Friedrich Froebel, der 1817 bei Rudolstadt sein erstes Kindererziehungsheim ins Leben rief; oder wie Friedrich Bodelschwingh, der 1872 mit seiner Anstalt in Bethel begann, die sich später als Hilfswerk der Deutschen Inneren Mission einen Weltruf erwarb. Diesen einfachen, schlichten Menschenfreunden fühlt sich der Gründer der Bürgerstiftung geistig verbunden. Ihnen eifert er nach im Maßstab seiner Möglichkeiten.


 

Der Grundstein

Beredt, nur zuweilen mit mehr oder weniger sanftem Nachdruck, appellierte Kurt Jahn an die guten Instinkte seiner Partner und Freunde, bei denen er bald auf Verständnis und Beifall stieß. In kürzester Frist tat jeder von ihnen einige tausend Deutsche Mark in den Jahnschen Klingelbeutel; zu einer Zeit, wohlgemerkt, in der sie selber gerade die Startschwierigkeiten ihres Neubeginns überwunden und kaum größere Gewinne zu verzeichnen hatten, zu einer· Zeit, in der es für viele von ihnen nicht einmal ausgemacht war, ob dieser oder jener von ihnen die ausgelobten oder gezahlten Spendenbeträge in seiner eigenen Kasse nicht bitter entbehren würde.

Es ist ein eigen Ding um das Spenden für Wohlfahrtszwecke. Gerade die Unternehmer, denen der Volksmund oft Raffgier, Eigensucht und Geiz vorwirft, haben in Dingen, die dem Profitstreben zuwiderlaufen, meist eine offene Hand, nicht nur weil sie wissen, daß es ohne eine breitgestreute Wohlfahrt in der heutigen Zeit keinen gesicherten Wohlstand und ohne Taten der Nächstenliebe kein gutes Gewissen und kein Ansehen gibt.
Zuweilen werden die Spenden freigebiger Unternehmer auch achselzuckend mit dem Bemerken quittiert, der Spender könne diese Beträge von der Steuer absetzen; aber so ist es nicht. Wohl braucht der Geber den für wohltätige oder sonstwie steuerbegünstigte Zwecke den gespendeten Betrag nicht zu versteuern; das heißt, er spart etwa die Hälfte des Nennwertes seiner Spende. Aber erstens muß er die Tausendmarkscheine, die er verschenkt, vorher redlich verdienen, und zweitens ist jede private Spende ein gutes Geschäft für den Staat. Andernfalls würde der Fiskus mit dem unersättlichsten Geldhunger aller Zeiten und Zonen, dem die scharfsinnigsten und genauesten Rechner der Erde dienen, diese Art von Geldausgaben wohlhabender Leute nicht so begünstigen, wie er es tut.

Bei den Darmstädter Spendern regte sich außerdem eine aufrichtige Dankbarkeit für die großzügige Aufnahme und Förderung, die ihnen durch die Wiederaufbaugesellschaft und den Beistand der Stadt und des Landes Hessen zuteil geworden war.

Dabei mußten die Männer der Wiederaufbaugesellschaft häufig genug den besorgten Widerstand manchen Stadtvaters besänftigen, der von Hause aus und von seiner Partei her ganz andere Vorstellungen von einem Neuaufbau der Gesellschaft in Bund, Land und Stadt hegte, als er nunmehr von Privatunternehmern

nach deren Leitbildern zum Segen der Stadt vollzogen wurde. Es gab auch viele Politiker in der Stadt, denen die unpolitische Eigenständigkeit ihres Wiederaufbaugesellschaftsleiters, der nicht in gewohnte Kategorien einzuordnen war, erheblichen Kummer bereitete.

Da war es ein Glück, daß sich Kurt Jahn in allen entscheidenden Fragen auf den Beistand und Weitblick des Oberbürgermeisters, des Stadtkämmerers, des Sozialdezernenten und ihrer Mitarbeiter verlassen konnte.

Nach kurzer Zeit verfügte Kurt Jahn für seine Sozialvorhaben nicht nur über ein namhaftes Startkapital, sondern auch über ein schönes Grundstück im Darmstädter Prinz-Emil-Garten, ein wunderbares Fleckchen Erde, das die Stadt Darmstadt für das geplante Altenwohnheim in kostenlose Erbpacht gegeben hatte.

Als etwa 237.000 DM an Spenden eingegangen waren, hielten Oberbürgermeister Dr. Ludwig Engel und Kurt Jahn das Liebeswerk für gesichert. Am 13. November 1958 legten sie gemeinsam den Grundstein. In seiner Festansprache beschwor Dr. Ludwig Engel den Geist des Friedens, der Eintracht und der Geborgenheit für das werdende Haus. Das war über acht Monate vor der offiziellen Gründung des Stiftervereins, die erst am 30. Juli 1959 beschlossen wurde.


 

Der Stifterverein

An der Gründungsversammlung im Alten Rathaus zu Darmstadt nahmen dreizehn Personen, unter ihnen vier alteingesessene Bürger teil. Eine Satzung wurde beraten und angenommen. Zum Vorsitzenden wurde der Zeitungsverleger Max Bach, zum Stellvertreter der Verleger Kurt Selka, zum Schatzmeister Dr. Hans Schenck vom Deutschen Roten Kreuz gewählt. Auf Beschluß der ersten Versammlung wurden weitere zwanzig Mitglieder – unter ihnen wiederum sechs alteingesessene Darmstädter – aufgenommen.

Am 5. Oktober 1959 – der erste Bauabschnitt des geplanten Wohnheims schritt bereits rüstig voran – wurde zwischen der Stadt Darmstadt, der Wiederaufbaugesellschaft, dem Architekten Kurt Jahn und dem „Stifterverein Altenwohnheim“ ein Vertrag unterzeichnet, in dem sich die Wiederaufbaugesellschaft verpflichtete, auf dem Gelände des Prinz-Emil-Gartens nach von der Stadt genehmigten Plänen ein Altenwohnheim zu errichten, für das die Stadt ein angemessenes Grundstück unentgeltlich in Erbpacht gab.

Architekt Kurt Jahn verpflichtete sich, für die Finanzierung des Baus und der Einrichtung zu sorgen. Der Stadt durften keine finanziellen Lasten erwachsen. Dafür verpflichtete sich die Stadt, alle Anträge auf die Bewilligung von Landesbaudarlehen und auf Zahlung von Zuschüssen aus den Gewinnen des Hessischen Zahlenlottos zu unterstützen.

Die Leitung und Bewirtschaftung des Wohnheims wurde vom Stifterverein übernommen, der die Wohnungen nach den Vorstellungen des Vereins an sozial bedürftige Bürgerinnen und Bürger ausleihen sollte. Die Mieten sollten so bemessen sein, daß die laufenden Kosten der Unterhaltung der Gebäude und Einrichtung und der Verwaltung gedeckt und bescheidene Rücklagen für unvorhergesehene Ausgaben gemacht werden konnten.

Am 17. Februar 1960 wurde der „Stifterverein Altenwohnheim e. V.“ in das Vereinsregister eingetragen.

Für die Aufnahme in das Heim wurden Einkommensgrenzen gezogen. Im Regelfall durfte das Monatseinkommen für Einzelpersonen 280 DM und für Ehepaare 400 DM nicht übersteigen. Die monatliche Miete für eine mit neuzeitlichem Komfort ausgestattete Wohnung mit allen Nebenkosten für Heizung, Warmwasser und Benutzung der Gemeinschaftsanlagen wurde auf 35 DM festgesetzt.


 

Das Haus im Prinz-Emil-Garten

Altenwohnheim Hermannstr. 1962 (Foto: Bürgerstiftung)

Altenwohnheim Hermannstr. 10,im Jahr 1962 (Foto: Bürgerstiftung)

Am 9. Mai 1960 wurde unter der freudigen Zustimmung aller Beteiligten das erste ansprechend und gediegen errichtete Haus eingeweiht. Einhundertelf Personen – drei Ehepaare, einhundert Frauen und fünf Männer – bezogen ihre nagelneuen, blitzblanken, an freundlichen, lichten Korridoren gelegenen Wohnungen.

Sie sind keine Heiminsassen, sondern freie Mieter, bar jeder Reglementierung, unabhängig von jeder persönlichen Aufsicht und Vorschrift, eigenständig in ihrer Zeiteinteilung und Lebensgestaltung, nur im Sinne freundnachbarlichen Friedens von einer losen Hausordnung umhegt.

Niemand zwingt sie zu einer bestimmten Stunde zu gemeinsamer Mahlzeit. In einer handlichen Kochnische bereiten sie ihre Speisen selber, wenn sie wollen. Sie können ins Haus gebrachte Speisen beziehen oder auch außerhalb – etwa bei ihren Verwandten- essen, ganz wie es ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen entspricht.

Kleine Küchenvorräte bewahren sie im eigenen Kühlschränkchen auf. Wollen sie waschen, bügeln, nähen oder flicken, so finden sie die nötigen Einrichtungen und Geräte zu freiem Gebrauch.

Verlangt es sie nach Geselligkeit, so ist sie in den behaglich ausgestatteten Gemeinschaftsräumen oder im nahen Nachbarschaftsheim zu finden. Jeder bestimmt, gute Nachbarschaft haltend, seinen Tageslauf für sich selbst. Wem der Sinn danach steht, empfängt oder macht Besuche; geht zu Vorträgen oder Konzerten. Kurzum, es gibt keine Anstaltsordnung.

Die Betreuung der Heimbewohner hat die liebenswürdig-energische Heimleiterin Emmi Wedel übernommen, die von der Stadtverwaltung unter Weiterzahlung ihres Gehaltes für diese Tätigkeit freigestellt worden ist.  Darmstädter Gärtner haben alle Kunstfertigkeit eingesetzt, um das Heim wie einen kostbaren Schmuckstein in herrliche Grünanlagen zu fassen und in den schönen Prinz-Emil-Garten einzugliedern.

Der erste Bauabschnitt mit 108 Wohneinheiten und 111 Betten hat einen Kostenaufwand von 896.391,81 DM erfordert. Davon sind 323.391,81 DM durch Spenden aufgebracht worden. Ein rückzahlungspflichtiges Landesbaudarlehen in Höhe von 333.000 DM und ein Zuschuß aus dem Hessischen Zahlenlotto in Höhe von 240.000 DM haben den Bau ermöglicht.

In seiner zur Einweihung des Hauses gehaltenen Ansprache dankte Dr. Heinrich Troeger dem hessischen Staat, vertreten durch den damaligen Innenminister Heinrich Schneider, dem Oberbürgermeister der Stadt, Dr. Ludwig Engel, Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Margaret von Hessen für ihre fördernden Handreichungen und den Damen Frau Wedel und Schwester Hilde samt allen freiwillig mitarbeitenden Schwestern und Reiferinnen für deren wertvollen Beistand.


 

Weitere Bauabschnitte

Kaum anderthalb Jahre später- im Oktober 1961- war der zweite Bauabschnitt mit weiteren 62 Wohneinheiten und 74 Betten durchfinanziert und fertiggestellt. Glückstrahlend nahmen wiederum nach sozialen Gesichtspunkten ausgewählte Mieter die Wohnungen in Besitz.

Das zweite Haus hat an Baukosten insgesamt 842.847,69 DM verschlungen. Aus Spenden kamen 359 847,69 DM; aus einem rückzahlungspflichtigen Landesbaudarlehen 223.000 DM und aus dem Zahlenlotto 260.000 DM.

Der Stifterverein sammelte weiter Geld in dem Tempo, in dem sein Gründer Kurt Jahn und sein Vorsitzender Max Bach als ein ebenso umsichtiger wie großzügiger Bauherr im Einvernehmen mit dem Vorstand, dem Kuratorium und der Mitgliederversammlung, neue Baupläne schmiedeten.

Bau Altenwohnheim Hermannstr. 01.04.1964 (Foto: Bürgerstiftung)

Bau Altenwohnheim Hermannstr. 01.04.1964 (Foto: Bürgerstiftung)

Schon im nächsten Jahr -am 19. Oktober 1964- wird das Richtfest des dritten Bauabschnitts gefeiert. Hierbei zeigt sich an einer rührenden Episode, daß sich der Stifterverein im Bewußtsein der Bevölkerung zur Bürgerstiftung zu wandeln begann. Mit einer liebenswürdigen Geste des Respekts vor den Leistungen der Männer und Frauen, denen der Bau eines so schönen Heimes für alte Leute zu danken war, verzichteten alle Bauhandwerker auf den üblichen Richtschmaus. Statt dessen fanden am Morgen des Richtfestes alle Heimbewohner – zu der Zeit etwa einhundertsechzig – je ein gesottenes Huhn und ein Fläschchen Bier vor ihrer Wohnungstür.

In der Richtfestrede wurde Einsicht in die sozialen Verquickungen gefordert, denen jeder einzelne Angehörige eines Gemeinwesens überantwortet sei. Aus dieser Einsicht entspringe der Bürgersinn. Der Redner sagte auf die Frage, wer wohl die Stadt sei, gebe es nur eine Antwort: Die Stadt ist nicht die Obrigkeit mit ihrer Verwaltung, ihren Behörden und Einrichtungen. Die Stadt, das sind wir alle, die wir nicht nur an unseren Arbeitsplätzen tätig sind und Steuern und Pflichtbeiträge zahlen, sondern aus eigener Erkenntnis und freien Stücken versuchen, dem Gemeinwohl zu dienen in mannigfaltigen gemeinnützigen Körperschaften und sozialen Verbänden.

Am 4. Oktober 1965 wurde das dritte Haus mit dreiundfünfzig Zimmern bezugsfertig. Der dritte Bauabschnitt hat 1.265.667 DM gekostet. 320.667 DM wurden aus Spenden, 265.000 DM aus einem Landesbaudarlehen und 680.000 DM aus Lottomitteln aufgebracht.


 

Das „fertige“ Wohnheim

Insgesamt sind bis dahin 3.004.906,50 DM verbaut worden. Davon haben die Mitglieder des Vereins an Barmitteln 1.003.906,50 DM beigetragen und das Risiko für die Rückzahlung der Landesbaudarlehen in Höhe von 821.000 DM übernommen, so daß sie bis dahin für 1.824.906,50 DM zu Buche standen. Das war gewiß für die Zeit von sieben Jahren eine beachtliche freiwillige Leistung, wobei der Beistand des Staates, der Zuschuß aus Lottomitteln in Höhe von insgesamt 1.180.000 DM nicht unterschätzt, sondern dankbar anerkannt werden soll.

Neben den Barspenden sind von den Mitgliedern wertvolle Sachspenden im Werte von einigen hunderttausend DM gestiftet worden.

Das Altenwohnheim umfaßt nunmehr einhundertachtundneunzig Wohnungen und zweihundertdreißig Mieter. Außerdem steht eine Pflegeabteilung mit acht Krankenbetten bereit.

Das Durchschnittsalter der Mieter beträgt fünfundsiebzig Jahre. Alle sind ihrem Alter entsprechend gesund, rüstig und lebensfroh. Die geistige Atmosphäre im Hause ist klar – von kleinen menschlichen Nücken und Tücken abgesehen – auf freundnachbarliche Fühlung, Zuversicht und Daseinsfreude gestimmt; mit einem deutlich spürbaren Hang zu Unternehmungslust und Tatendrang, wie sich besonders bei gemeinsamen Feiern, Basararbeiten oder Basteleien zeigt.

Das Arbeitsprogramm des Stiftervereins, das Dr. Heinrich Troeger in seiner Einweihungsrede noch einmal feierlich darlegte, konnte verwirklicht werden: „Auch die alten Mitbürger sollen freie Menschen sein, insbesondere dann, wenn sie mit bescheidenen Mitteln auskommen müssen.“

Dieses schöne Ziel ist das Leitmotiv der Bürgerstiftung, die vorläufig immer noch Stifterverein Altenwohnheim hieß. Den Mietern, deren Miete nunmehr mit Abgaben für Heizung, Warmwasser und dergleichen bis zu 40 DM im Monat beträgt, stehen nun sieben Tagesräume für Andachten, Fernsehen, zum Lesen und Musizieren und für geselligen Umgang zur Verfügung. Alle gemeinschaftlichen Aufenthaltsräume sind auf das feinste in geschmackvollen Farben gehalten, mit großen Fenstern und schönen Vorhängen versehen, mit: Blumen und wertvollen – ebenfalls gespendeten – Wandmalereien und Kunstwerken anerkannter Darmstädter Künstler geschmückt. Ein Tiefkühlraum, vier Waschautomaten, dreizehn Baderäume und einige Teeküchen stehen allen Mietern zur regelmäßigen Benutzung frei.

Kurzum: Das Altenwohnheim ist ein leuchtendes Schmuckstück Darmstadts geworden. Von weither kommen Besucher, Kommissionen und Sozialfachleute, um sich hier Rat und Anregungen zu holen. Ihr Urteil ist einmütig. Die Leistungen des Stiftervereins und die Art und Weise, in der das Wohnheim geführt wird, haben im Inland und Ausland Bewunderung und Anerkennung gefunden. Man nennt das hiesige Unternehmen ein beispielgebendes soziales Werk, ein Altenwohnheim neuen Stils.


 

Ein guter Irrtum

Nur in einem Punkte haben sich die Mitglieder des Stiftervereins mitsamt ihrem Kuratorium und Vorstand geirrt. Am Beginn seiner Festansprache zur Einweihung der neuen Räume erklärte Dr. Heinrich Troeger am 4. Oktober 1965 kategorisch: „Mit der Fertigstellung und der Inbesitznahme des dritten Bauabschnitts ist das Projekt Altenwohnheim vollendet und als Aufgabe abgeschlossen.“

Aber schon im Frühjahr 1969 ist ein vierter Bauabschnitt für siebenundfünfzig Betten begonnen worden. Die Gesamtkosten für diesen Abschnitt belaufen sich auf 1.570.000 DM. Von diesem Betrag müssen fünfzig Prozent, also etwa 800.000 DM aus Spendenmitteln aufgebracht werden; so daß dann im Prinz-Emil-Garten eine Summe von 4.574.906,50 DM verbaut sein wird, zu der die Spender 1.803.906,50 DM beigetragen haben werden.

Das ist gewiß eine horrende Summe, bei der kühle Rechner die Ohren anlegen. Aber Kurt Jahn und Max Bach, die beide genaue und tüchtige Rechner sind, blicken zuversichtlich in die Zukunft. Allen gelegentlichen Widrigkeiten zum Trotz verfolgen sie ihre weitgestecken Ziele; beharrlich, zähe, unbeirrbar und unermüdlich. Im stillen hört man sie leise erwägen, wie durch einen fünften „endgültig letzten“ Bauabschnitt ein weiterer Wohntrakt mit etwas größeren Räumen bei gleichen Mieten für dreiundzwanzig Ehepaare entstehen könnte, von denen einige bereit sein müßten, bei der Betreuungsarbeit im Wohnheim mitzuhelfen, um die auch hier immer spürbarer drückenden Personalschwierigkeiten abzufangen.


 

Vom Stifterverein zur Bürgerstiftung

Mit der nahen endgültigen Vollendung des Altenwohnheimes im Prinz-Emil- Garten begann der Umbau des Stiftervereins zur Bürgerstiftung. Schon seit Beginn des Jahres 1964 wälzen Vorstand und Kuratorium im engsten Einvernehmen mit dem Leiter des Sozialamtes, Stadtrat Horst Seffrin, den Plan, den Bewohnern des Altenwohnheimes eine geistige und seelische Altershilfe zu bieten, indem man ihnen den Umgang mit sozial benachteiligter und gefährdeter Jugend – mit elternlosen Kindern – ermöglicht, um sie im Rahmen ihrer Kräfte und Neigungen zu tätiger Fürsorge für ebenfalls hilfsbedürftige Menschen anzuregen und so ihr eigenes Dasein durch eine sinnvolle Tätigkeit zu bereichern.

Damit wurde der bisher engumrissene Aufgabenkreis des Stiftervereins Durchbrachen; zugleich wurden Anforderungen an die Finanzkraft der Spender gestellt, die eine Ausweitung des Vereins und seines Stifterkreises geboten. Eine solche Ausweitung erschien auch aus anderen Gründen erwünscht. Immer mehr alteingesessene Unternehmer fanden am Werk des Stiftervereins Gefallen; immer enger gestaltet sich das Zusammenwirken zwischen den „Alten“ und „Neuen“. Da war es Zeit, die letzten mentalen Vorbehalte und Grenzen zwischen den beiden Gruppen zu schleifen und aufzuheben.

Der Sprung in die neue Entwicklung wurde gewagt. Am 12. Juni 1967 wurde die „Bürgerstiftung Darmstadt e. V.“ in das Vereinsregister eingetragen.

Die Bürgerstiftung plant, neben dem Altenwohnheim – auch örtlich in dessen Nähe – ähnlich den schon bestehenden Kinderdörfern etwa sechzig Kindern, deren Familien durch Tod, Krankheit, Unfall oder sonstiges Unheil zerstört worden sind, eine neue Geborgenheit in einer sinnvollen Heimstatt zu schaffen, die etwa sechs bis acht „kinderreiche“ Familien beherbergen soll. Die Kinder sollen vom sechsten Lebensjahr bis zur vollendeten Berufsausbildung unter der Obhut geeigneter „Elternpaare“ oder doch von „Müttern“ in diesen „Familien“ leben.

Dazu hat Klaus Schmidt am 16. Dezember 1965 im „Darmstädter Echo“ berichtet: „In Abwandlung des Gedankens der Kinderdörfer will die bekannte Darmstädter Bürgerinitiative, die das Altenwohnheim im Prinz-Emil- Garten geschaffen hat, ihr Wirkungsfeld erweitern: Buben und Mädchen, denen das Schicksal die Hut der Familie genommen hat, sollen in einem Jugend-Internat ein Heim finden, bis sie flügge sind … Ein über Erwarten glücklich verlaufenes Experiment des bekannten Wiener Schul- und Sozialbauers Professor Schuster, der ja enge Beziehungen zu Darmstadt hat, veranlaßt den Stifterverein, auch in Darmstadt die Verbindung von Altenheim und Jugend-Heimstätte anzustreben… Die zunächst vielleicht überraschende Kombination eines Altenheimes mit einem Kinder-Wohnheim hat den Gedanken der gegenseitigen Lebenshilfe aufgegriffen und verspricht intensive menschliche Beziehungen zwischen den beiden Altersgruppen, die erfahrungsgemäß besonders gut miteinander auskommen…

Hier betritt man zuversichtlich Neuland in der Erfüllung von Aufgaben, die eine gewandelte Gesellschaftsstruktur der Gemeinschaft heute stellt. Daß Bürger selbst initiativ werden, ist vielleicht die erfreulichste Erkenntnis unserer verwalteten Welt.“


 

Warum Kinderwohnheim?

Bei den Plänen zu einem Wohnheim für elternlose Kinder und Jugendliche ist die Bürgerstiftung von der Erkenntnis ausgegangen, daß neben den minderbemittelten Alten vor allem elternlose Kinder bis zu ihrer vollen Berufsausbildung des Schutzes und der Hilfe in einem Maße bedürfen, das von der öffentlichen Hand und den Sozialverbänden allein nicht erfüllt werden kann; sondern daß ein spürbarer Beistand, eine wirksame Hilfstätigkeit privater Kreise vonnöten ist, um diesen Notstand in seinen versteckten Schlupfwinkeln anzugehen.

Dieses Bestreben hat mit der vormals oft anzutreffenden Bettelsuppenmildtätigkeit nichts zu tun. Sie entspringt den Erkenntnissen gesellschaftspolitischer Gegebenheiten.

Eine Gesellschaft, die sich moralisch und soziologisch gesund erhalten will, braucht das Pflichtbewußtsein gegenüber den Hilfsbedürftigen beider Altersklassen, die noch nicht oder auch nicht mehr erwerbsfähig sind; und die beide zusammen ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen.

Trotz aller Strukturwandlungen unserer Zeit: Nach wie vor wird sich die Familie als materieller und ideeller Kraftquell und Nährboden für unser Volk als notwendig und unentbehrlich erweisen. Mögen auch die Mißverständnisse zwischen Eltern und Kindern vorerst wachsen, mögen die Kontakte zwischen Geschwistern und Verwandten dünner und lockerer erscheinen als früher, ihre gegenseitigen Wechselströme werden trotzdem niemals versiegen und immer wieder neue Impulse des Zusammenwirkens auslösen.

Trotz der zur Zeit besonders augenscheinlichen Entfremdung zwischen jung und alt bleibt die alte Erfahrung richtig: Nur in der Geborgenheit der Familie, unter der Obhut verständiger Eltern oder Erzieher lernen die jungen Menschen, daß sie, die den Beistand, die Lebenshilfe ihrer Eltern, Geschwister und Verwandten in Anspruch nehmen, nicht nur Rechte beanspruchen dürfen, sondern auch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft auf sich nehmen müssen.

In der familiären Gemeinsamkeit wird ihnen – wenn überhaupt – der Sinn für die Notwendigkeit erschlossen, als Junge den Erwachsenen zu danken und als Erwachsene dermaleinst so für ihren Nachwuchs, für ihre Kinder zu schaffen und zu sorgen, daß sie in ihrem eigenen Alter deren Dank und Anerkennung verdienen, damit die allgemeine Wohlfahrt gedeihe und neben den Gesunden und Starken möglichst viele Menschen erreiche, die Not leiden und der Hilfe bedürfen.

An dieser Erkenntnis ändert auch die Tatsache nichts, daß wohlhabende Familien ihre Söhne und Töchter seit eh und je fern der Familie in Internaten erziehen lassen. Denn auch dort steht der Nachwuchs in der Obhut und Fürsorge elterlicher oder verwandtschaftlicher Verbundenheit.

Der menschlichen Gesellschaft in unserer freiheitlichen Ordnung ist aufgegeben, soweit es in ihrer Macht steht, die Alten vor dem Trauma des Abgeschobenseins auf die letzte Wartestation und die Jugend vor Abenteuern zu schützen, durch die sie sich selber und ihre Umwelt ins Unglück stürzen.

Die Kette der Generationen muß fest und ihre Bindungen müssen stark sein, um eine gute Ordnung für alle Menschen zu tragen. Wird sie brüchig, verwittert sie, reißt sie, so wird alles, was wir an unserer Ordnung für gut und vernünftig halten, zusammenstürzen und einer neuen Entwicklung Raum geben, von der niemand weiß, ob sie dem Menschen ebenso zuträglich sein wird wie die, unter der die Jungen und Alten heute noch leben dürfen.

Diese Gedanken haben –  neben dem Hang zur Nächstenliebe, zum Erbarmen und zur Wohltätigkeit- zu dem Entschluß der Bürgerstiftung geführt, sich mit den Plänen für ein Kinderwohnheim zu befassen.


 

Pläne und Erfordernisse

Wie und wann sich die Pläne der Bürgerstiftung verwirklichen lassen, steht noch dahin. Bisherige Überlegungen haben ergeben, daß der Bau eines Wohnheimes für elternlose Kinder und Jugendliche, der sich der Nachbarschaft des Altenwohnheimes würdig erweisen soll, etwa drei Millionen DM erfordern wird. Die Stiftung muß bereit sein, diesen Betrag durch Spenden und Bürgschaften für etwaige Landesbaudarlehen – in Erwartung auf weitere Zuschüsse, etwa aus dem Hessischen Zahlenlotto – aufzubringen. Die Stiftung rechnet für dieses große Projekt mit einer Million DM Zuschuß aus Landesmitteln.

Die Stadt Darmstadt hat in Vorverhandlungen zugesagt, wiederum – wie schon beim Altenwohnheim – der Stiftung ein geeignetes Baugrundstück in Erbpacht zu überlassen.

Die Frage der laufenden Kosten für die Erhaltung und den Betrieb eines solchen Wohnheimes und für das notwendige Personal wiegt naturgemäß schwerer als beim Wohnheim für alte Menschen. Da jedoch mit den normalen gesetzlichen Beihilfen für die Versorgung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu rechnen ist, wird sie sich lösen lassen.

Notleidende, von Verführung, Verwahrlosung und Kriminalität bedrohte und gefährdete Kinder und junge Menschen gibt es im Überfluß. Was stünde da wohl der Verwirklichung dieser guten Absicht hindernd im Wege? Eigentlich nichts. Und doch geht es seit dem Frühjahr mit dem Projekt nicht voran.


 

Hemmnisse und Hürden

An diesem Beispiel soll einmal der Öffentlichkeit gegenüber klargelegt werden, was für eine Bürde an Arbeit, Verantwortung und gelegentlich auch an Verdruß die leitenden Männer der Bürgerstiftung bei ihrem freiwilligen Dienst am Gemeinwohl auf sich zu nehmen haben.

Es scheint, als seien mit einem solchen Vorhaben – auch wenn es den Staat nicht belasten, sondern ihm helfen, ihn entlasten will – zu viele Behörden, Ämter und Dienststellen befaßt und innerhalb ihrer Bürokratie zu viele gegeneinander gerichtete Möglichkeiten und Vorlieben für die Anwendung oder Auslegung einschlägiger Vorschriften und Paragraphen entwickelt worden, als daß alles glatt und reibungslos nach vernünftiger Einsicht verlaufen könnte.

Gewiß, es muß Paragraphen und Vorschriften geben; gewiß, die Bürokratie ist zur Sorgfalt im Umgang mit den Finanzen und anderen öffentlichen Gütern verpflichtet; gewiß, es ist Aufgabe der Behörden und Ämter, über die Angelegenheiten der öffentlichen Hand gegenüber privaten Anliegen zu wachen. Aber die Sorgfalt sollte nicht so weit gehen, die Opferfreude und Tatenlust jener Männer und Frauen unnötig zu strapazieren, die sich trotz ihres zumeist schweren Berufslebens in löblichem Bürgergeiste um das Gemeinwohl bemühen; denn sonst kommt die Gefahr auf, daß guter Wille zermürbt und entmutigt wird.

Bei der Voraussetzung des guten Willens aller am Projekt der Bürgerstiftung beteiligten Stellen oder der von ihm betroffenen Personen sind die Verhandlungen und der Schriftverkehr über das geplante Kinderheim mit allen zuständigen Körperschaften und Einrichtungen nach Abschluß zahlreicher Vorgespräche am 7.Februar 1966 eröffnet worden.

Fragen der Finanzierung, der Grundstücke, der Bauentwürfe, der personellen Besetzung, der Organisation, der Zusammenarbeit mit benachbarten Körperschaften und vieler anderer Gebiete mußten behandelt und abgeklärt werden.

Sechzig ausführliche, mit allen benötigten Ausarbeitungen und Unterlagen versehene Schriftsätze, Eingaben, Finanzpläne, Baupläne, Erläuterungen und Anträge sind bis zum März 1969 hinausgegangen, an die hessischen Ministerien für Finanzen; für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen; an die entsprechenden Ministerialressorts und Abteilungen; an das Landesjugendamt; an das Staatsbauamt; an den Magistrat, die Stadtbauverwaltung, das Liegenschaftsamt, das Vermessungsamt und an viele andere Zuständigkeitsorgane.

Dutzende von langwierigen, zuweilen unerfreulichen Unterhandlungen und Besprechungen mußten wahrgenommen werden; mit der Landesregierung, mit den Zwischeninstanzen, mit den Architekten, mit dem – immer verständnisvollen und hilfsbereiten – Magistrat, mit den Vorbesitzern der von der Stadt für das Baugrundstück zugesagten Parzellen; kurzum: Die leitenden Männer der Bürgerstiftung, Kurt  Jahn und Max Bach, haben einen schier unmeßbaren Aufwand an Zeit, Kraft, Geduld – und auch Geld – auf sich genommen, um dem Staat und der Stadt im Sinne und Geiste der Bürgerstiftung und ihrer Mitglieder der bei der Lösung einer brennenden sozialen Aufgabe beizustehen.


 

Die Kindertagesstätten

Kita Havelstraße

Kita Havelstraße

Während der Wartezeit auf den Baubeginn für das Kinderwohnheim hat sich eine neue Entwicklung angebahnt. Angeregt von Mitgliedern der Bürgerstiftung, haben sich Vorstand und Kuratorium mit einem weiteren Notstand in Darmstadt befaßt; dem drückenden Mangel an Krippen und Tagesstätten für die Kinder berufstätiger Mütter.

Bei den heutigen Ansprüchen, die junge Ehepaare oder auch alleinstehende Mütter an den für angemessen erachteten Lebensstil stellen – vielleicht auch stellen müssen – sind die Frauen auf Jahre hinaus gezwungen, durch Berufsarbeit zu dem enormen Geldbedarf der Familie beizutragen. Wird die junge Frau Mutter und gibt sie ihren Kindern zuliebe ihren Arbeitsplatz auf, so sinkt in den meisten Fällen die Lebenshaltung rapide ab. Nimmt sie nach kurzer Schonzeit ihren Arbeitsplatz wieder ein, so geht die neue Hebung der Lebenshaltung in den meisten Fällen zu Lasten der Kinder, die bis zur Heimkehr der Mutter sich selbst oder der unzulänglichen Aufsicht und Fürsorge behilflicher Hausgenossen überlassen wird. Aber nicht nur die jungen Mütter sind auf den Arbeitslohn angewiesen. Der Industrie, der heutigen Volkswirtschaft in unserer Konsumgesellschaft, ergeht es nicht anders. Die Arbeitsmärkte sind von der Konjunktur leergefegt wie Kornfelder nach der Ernte. Der prekäre Mangel an Arbeitskräften zwingt viele Unternehmer, um die Rückkehr der Hausfrau und Mutter in die Berufstätigkeit zu werben. Sie brauchen deren Mitarbeit wie das liebe Brot, wenn ihre Betriebe nicht stagnieren oder im Wettbewerb zurückfallen sollen. Sie lassen sich diese Mitarbeit etwas kosten. Viele Mütter nehmen das Angebot an und lassen ihre Kinder tagsüber allein. Das trifft im besonderen und besonders starkem Maße vor allem für die ledigen Mütter zu.

Hier klafft, trotz aller Bemühungen der öffentlichen Hand, der Sozialbehörden, der kirchlichen und weltlichen Sozialkörperschaften – wie auch der Wirtschaft – in einem lebenswichtigen Sozialbereich unserer Ordnung eines schmerzhafte, kaum zu heilende Wunde.

Angesichts der Gefährdung der Kinder, die sich tagsüber selbst überlassen sind, in geistiger, seelischer, moralischer, aber auch körperlicher Hinsicht; angesichts der kriminellen Mißfälle, denen sie aktiv und passiv ausgesetzt sein können, muß dieser Übelstand gemeistert werden. Das ist die Wohlstandsgesellschaft ihrem durch sie in Mitleidenschaft gezogenen Nachwuchs schuldig. Mit reichlich und eilfertig ausgeteilten Taschengeldern für Näschereien und Protzereien wird nicht geholfen, sondern verschlimmert.

Darmstadt muß mit geeigneten Krippen, Kindergärten und Tagesstätten für die im Elternhause tagsüber unbetreuten- aber auch für die betreuten! – Kinder gesorgt werden. In Anbetracht des reichlichen Bedarfs an Geld und geschultem Personal ist diese Versorgung nicht leicht zu bewerkstelligen.

Weder der Staat noch die Gemeinden; weder die Eltern noch die einzelnen Unternehmer sind – von Ausnahmen abgesehen – zur Zeit imstande, durchgreifende Abhilfe zu schaffen. Hier muß- ohne die oben genannten Gesellschaftsfaktoren zu entlasten – die Bürgerstiftung wirksam werden; hier muß die private Hilfe einspringen, um das Problem anzupacken und mustergültig zu lösen, wie das bisher schon von kirchlichen und weltlichen Einrichtungen und Einzelunternehmen-wie etwa von der Firma E. Merck – in liebevoller Weise geschehen ist. Aber die bisher bestehenden Krippen, Kindergärten und Tagesstätten reimen bei weitem nicht; sie zeigen höchstens, wie dringend und zwingend sie allgemein erforderlich sind.

Die Bürgerstiftung Darmstadt hat – ihrer Gesamtschau gemäß – ihre soziale Verpflichtung auch hier erkannt und den Gedanken, auch auf diesem Gebiet neue Wege zu beschreiten, begeistert aufgegriffen. Sie hat ein Konzept entwickelt, das den Staat, die Gemeinde, die Wirtschaft und die Bürgerstiftung gemeinsam an dem Versuch beteiligt, den sozialen Notstand zu lindern, unter dem viele Kinder und Eltern leiden.

Der Plan ist „einfach“, wie immer, wo Kurt Jahn seine Hand im Spiele hat: Die Stadt Darmstadt müßte im Industriepark zwei angemessene Grundstücke in unentgeltliche Erbpacht an die Bürgerstiftung geben; eines am Kavalleriesand, eines an der Havelstraße. Die Bürgerstiftung würde aus ihren Spenden den Bau zweier Kinderkrippen und Tagesstätten für je fünfundsechzig Kinder übernehmen. Der Staat müßte die üblichen Landesbaudarlehen zur Verfügung stellen und – vielleicht – Zuschüsse aus dem Hessischen Zahlenlotto bewilligen. Die den Einrichtungen benachbarten, an der Unterbringung von Kindern beteiligten Unternehmen gründen einen losen Verband, der das Heim in eigener Regie und auf eigene Kosten betreibt und für den eine der Mitgliedsfirmen Feder und Buch führt.

Auch hierzu liegen bereits die Bauentwürfe dreier junger Architekten der Wiederaufbaugesellschaft vor.

Kommt dieses Vorhaben zustande, so wären auf einen Schlag einhundertdreißig Darmstädter Kinder in gute Obhut genommen. Die neue Form der Gründung solcher Kindertagesstätten könnte Schule machen, zum Segen der Kinder, ihrer besorgten Eltern, zum Vorteil der Wirtschaft, des Gemeinwesens und der Gesellschaft.


 

Schlußwort und Ausblick

Auch in diesem wie in allen anderen Plänen der Bürgerstiftung Darmstadt wird offenbar, daß es sich bei dieser Gemeinschaft trotz aller Begeisterung ihrer Mitglieder nicht um das emotionale, gefühlsbetonte Bestreben handelt, sich mit Hilfe einer billigen Almosen-Barmherzigkeit ein reines Sonntagsgewissen zu erkaufen, sondern daß hier Männer und Frauen am Werke sind, deren unternehmerische Einsicht ihnen den Weg in eine zeitgemäße Sozialarbeit weist; einen Weg, der über das Bestehende und übliche hinaus zu neuen sinnvollen Formen sozialer Betätigung im Geiste der allgemeinen Wohlfahrt führt.

Ihr dritter Plan, die Gründung von Tagesstätten, wird nicht ihr letztes soziales Vorhaben bleiben; denn die Bürgerstiftung ist jung, der Bürgergeist wirkt in ihr lebendig und stark. Er wird immer Ausschau nach sinnvollen, lohnenden Aufgaben halten.

Um so erfreulicher ist die Tatsache, daß auch hier die Gräben und Grenzen zwischen alteingesessenen und neuangesiedelten Unternehmern von der Zeit geschleift worden sind. Beider Gruppen Angehörige sind ebenso gleichberechtigte wie gleichverpflichtete Bürgerinnen und Bürger der Stadt; beide gemeinsam betrachten in immer stärkerem Maße die Bürgerstiftung Darmstadt als Plattform gemeinsamen Handelns. So ist die Bürgerstiftung im Laufe eines Jahrzehnts zu einem typisch darmstädtisch-eigenständigen Sozialfaktor geworden, dessen Beispiel und Vorbild den Namen der Stadt Darmstadt als eines Hortes von gutem Bürgersinn über ihr Weichbild und ihre Gemarkung hinaus trägt.

Glück zu! du gute und schöne Stadt Darmstadt; Glück zu! du junge und beispielgebende Bürgerstiftung.