Mitreden, Mitverantworten, Mitgestalten: Bürgerstiftung Darmstadt
Die Wissenschaftsstadt Darmstadt hat das neue Bürgerbuch mit dem Titel „Fünfzig Momente einer Stadt“ 2014 neu aufgelegt. Es setzt damit die 1964 begonnene und 1996 unterbrochene Tradition des „Darmstädter Bürgerbuchs“ fort, allerdings in völlig neuer Form, in neuer Gestaltung, mit neuem Inhalt und einer neuen Zielsetzung. Das Buch gibt subjektive Einblicke in die Wissenschaftsstadt Darmstadt, die so viele Facetten hat und aus vielen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Genau diese verschiedenen Momente stehen im Mittelpunkt. Unterschiedliche Blickwinkel des Fotografen, verschiedene Sichtweisen der Autoren, alternative Perspektiven, die in Form von Zitaten ausgewählt wurden. Aber immer das gleiche Ziel: Darmstadt im Kopf und Herz erlebbar machen.
Auch die Bürgerstiftung Darmstadt ist ein wichtiger Teil der Stadt und des Bürgerbuches. In den letzten Jahren hat sie sich stetig weiterentwickelt.
Auszug aus dem Darmstädter Bürgerbuch:
…Sie gehört zu den ältesten Formen organisierten bürgerschaftlichen Engagements; gegründet schon 1959 von Max Bach, Kurt Jahn und Heinrich Troeger. Am Ende des Jahrzehnts, das als „Wirtschaftswunder“ in die Geschichte einging und in dem die sichtbaren Wunden des Kriegs auch in Darmstadt schon weitgehend geheilt worden waren, riefen sie einen Verein ins Leben, der Alten und Benachteiligten das Leben erleichtern sollte – so waren die wesentlichen Inhalte des Vereins auch die Förderung eines Alten- und eines Behindertenwohnheims; außerdem wurden zwei Kindertagesstätten betreut. Dafür galt es, Geld einzuwerben. Dies geschah im Kreis der Darmstädter Honoratioren, zu denen neben Margaret Prinzessin von Hessen und bei Rhein vor allem prominente Unternehmer zählten; nicht wenige arbeiteten dann auch im Vorstand oder im Stifterrat mit. In einer Zeit höchster Prosperität entsprach man damit dem in angelsächsischen Ländern ja viel stärker verankerten Gedanken, vom eigenen Vermögen etwas der Gesellschaft zurückzugeben, der man den Wohlstand verdankt; zugleich ergriff man die Initiative in einem sozialen Sektor, der zuvor traditionell wenn nicht vom Staat, dann nur von der Kirche versorgt wurde.
Dieses frühe Modell bürgerlichen Engagements mit seiner ebenfalls stark patriarchalischen Note, dem starren Gerüst eines Vereins und der Ausrichtung auf wenige betreute Objekte, ließ sich jedoch auf Dauer nicht aufrechterhalten. Schon 1975/76 war der Verein in eine ordentliche selbstständige Stiftung umgewandelt worden, freilich noch immer, wenn auch aktiver ausgerichtet auf die bisherigen Objekte der Alten- und Behindertenbetreuung. Dieses Korsett erwies sich nach 1990 als zu eng. „Wir haben zu lang im Dornröschenschlaf geschlummert“, sagt Dr. Markus Hoschek, der Vorstandsvorsitzende. Ein Jahrzehnt später stand die Bürgerstiftung kurz vor der Auflösung. Mit Hilfe der Stadt gelang schließlich die Neuausrichtung – 2010 übertrug sie Altenwohnheim und Behindertenwohnanlage der Stadt; im Gegenzug vereinte die Stadt unter dem Dach der neuen Bürgerstiftung alle Stiftervermächtnisse, die ihr von Bürgern in Folge von Erbschaften zugefallen waren – da gibt es zum Beispiel die Alfred-Schmitz- Stiftung, die bedürftige Schüler der Justus-Liebig-Schule unterstützt, oder die Bundschuhstiftung, deren testamentarisch festgelegter Zweck es ist, armen Bewohnern des städtischen Altersheims in der Emilstraße an ihrem Geburtstag mit einem kleinen Geldgeschenk eine Freude zu machen.
Diesen Auflagen kommt die Bürgerstiftung getreu und mit dem Herzen nach. Befreit von ihren ursprünglichen Zwecken, hat sie sich aber ganz neu ausgerichtet – als eine der lebendigen Gesellschaft verpflichtete Stiftung, die in einer enormen Bandbreite bürgerschaftliche Initiativen unterstützt und in einigen Fällen auch selbst die Initiative ergreift. Dabei hat die Stiftung noch immer die sozial benachteiligten Menschen im Auge. Aber nicht mehr als Objekt der Fürsorge, denen in engem Rahmen etwas Gutes getan werden soll. Sondern als Orientierungsrahmen für präventives Handeln. Deshalb steht heute die Bildung im Vordergrund, mit dem Ziel der Befähigung, gesellschaftliche Chancen ergreifen zu können, „von der Wiege bis zur Bahre“, wie Gerd Wieber sagt, der Geschäftsführer. „Bildung“, so Wieber, „ist eine Schlüsselfunktion.“ Dadurch rücken Projekte, die Kindern und der Entfaltung ihrer Persönlichkeit zugute kommen, in die erste Reihe. Nicht ohne Grund war das erste Projekt der neuen Bürgerstiftung die „Kindervorlesung“: Professoren der Darmstädter Hochschulen erklären während der regulären Semester an einem zentralen Ort – dem Schloss – Kindern komplexe Sachverhalte. Seriös, also nicht als Bespaßung, aber eben doch auf dem Verstehensniveau der jungen Zuhörer. Aus dem Pilotprojekt wurde eine äußerst erfolgreiche Reihe.
In dieses Feld gehören die „Bücherkoffer“, die die Bürgerstiftung erfand – um Schulkindern, die heute im Sturm so vieler elektronischer Medien stehen, den Weg zurück zum klassischen Lesen zu ebnen. Dieses Projekt wurde mit sechs sogenannten freien Darmstädter Buchhandlungen umgesetzt, solchen also, die keinem Konzern angehören. Gemeinsam wird ein richtiger Koffer gefüllt, den Kinder dritter Grundschulklassen freilich gemeinsam mit ihren Lehrern in der Buchhandlung abholen müssen. „Schwellenangst abbauen, ist das Thema“, sagt Wieber; „viele Kinder lernen da überhaupt zum ersten Mal eine Buchhandlung kennen.“ Die Koffer rotieren durch mehrere Grundschulen; am Schuljahresende wandert der Inhalt in Schulbibliotheken, und im nächsten Jahr finanziert die Bürgerstiftung neue Koffer.
Ebenso wichtig sind der Bürgerstiftung aber jene Aktionen, die sie nur anstößt („Anstifter sein“, so nennt das Wieber). Etwa, um Kindern aus weniger wohlhabenden Familien zu ermöglichen, ein Musikinstrument zu lernen. Geigen zum Beispiel sind teuer, und wie bei Schuhen wachsen die Kinder aus der Größe heraus. Leihinstrumente sind die Lösung. Die Bürgerstiftung bot dem Förderverein der Akademie für Tonkunst an: „Jeden Euro, den ihr mit euren Aktionen für die Anschaffung von Leihinstrumenten einwerbt, werden wir verdoppeln.“ So geschah es auch, „und das hat dazu geführt, dass der Förderverein wieder richtig aktiv wurde“. Ähnlich das Eintreten für die wertvollen Hoetger-Skulpturen im Platanenhain, die unter dem Einfluss der Witterung, vor allem aber als Folge von Vandalismus zuschanden kamen. Die Bürgerstiftung gab den finanziellen Anstoß zur Restaurierung – zu der die Stadt allein nicht in der Lage gewesen wäre. Aber eben nur den Anstoß. „Uns war hier die Vorbildfunktion wichtig“, sagt Dr. Jan Sombroek, der stellvertretende Vorsitzende. „Wir wollten zeigen, da kann man etwas tun – und anregen, dass Darmstädter Bürger beispielsweise Patenschaften übernehmen für die Restaurierung einer Skulptur.“
Denn das ist der Bürgerstiftung wichtig: Sie versteht sich nicht als Reparaturbetrieb des kommunalen Lebens. „Unser Ziel ist heute gerade nicht, Leistungen zu erbringen, zu denen sich die Stadt nicht mehr in der Lage sieht“, sagt Dr. Hoschek. „Wir wollen vielmehr das Spektrum erweitern und die Bürger dabei mitnehmen.“
Diese Abgrenzung zeigt, dass es durchaus ein Spannungsfeld gibt im Miteinander institutionellen und bürgerschaftlichen Handelns. Die Stadt ist dankbar, wann immer sie entlastet wird – aber gleichwohl würde sie gern die Hand drauf behalten und die Richtung bestimmen; sieht sich dazu politisch legitimiert. Die Bürger wollen diese Legitimation nicht unterminieren, aber eben auf der anderseits das Selbstbewusstsein, das sie mit ihrem Engagement demonstrieren, auch nicht durch die Stadtverwaltung beschnitten sehen. Auf dem Weg zur Bürgerstadt sind noch manche Hürden zu nehmen. Doch schon die Zwischenbilanz ist positiv – wie das Beispiel von Brunnenpatenschaften zeigt, die Bürger übernommen haben. …